„Es ist die freie Entscheidung einer Frau, ein Kopftuch zu tragen oder nicht“

 

Zum Thema „Kopftuch tragen“ hat sich in der Redaktion von tünews international eine Arbeitsgruppe gebildet, zu der Aliaa Abd Khalaf, Fatima Salehi, Halima Ibrahim und Michael Seifert gehören. Wir haben zunächst im Bekanntenkreis kurze Interviews geführt, um unterschiedliche Stimmen einzufangen. Schließlich sind wir zur Juniorprofessorin Fahimah Ulfat in das Zentrum für Islamische Theologie der Universität Tübingen gegangen und haben mit ihr ein ausführliches Interview geführt.

 

Frau Ulfat, sie tragen selbst Kopftuch, welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?

Ulfat: Ich habe begonnen, das Kopftuch zu tragen, als ich im Gymnasium war. Da meine Schwestern und ich dort die einzigen Schülerinnen mit Migrationshintergrund waren, hatten meine Lehrer zunächst Mitleid mit mir, weil sie dachten, dass ich gezwungen werde, das Kopftuch zu tragen. Aber sie haben sich schnell daran gewöhnt. Auch in der Öffentlichkeit, auf der Straße oder in Bus und Bahn habe ich kaum schlechte Erfahrungen gemacht. Vielleicht hat mich an der Bushaltestelle mal jemand unfreundlich angesprochen, aber das war sehr selten.

 

Und wie ging es Ihnen im Berufsleben?

Ich habe an verschiedenen Schulen gearbeitet und das Kopftuch getragen – das war überhaupt kein Problem. 2008 kam dann ein Gesetz, das Kopftuchtragen in der Schule verboten hat. Und dann durfte ich das Kopftuch nicht mehr tragen. Man hätte das Kopftuch theoretisch nur noch im Islamischen Religionsunterricht tragen dürfen. Das war schon paradox.

 

Gilt dieses Gesetz auch heute noch?

Vor etwa drei Jahren wurde das Gesetz aufgehoben, weil es nicht mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar ist. Ich selbst bin schon vorher einen anderen Weg gegangen, habe die Schule verlassen, ein Stipendium bekommen und an der Universität angefangen zu promovieren und zu arbeiten. Hätte ich diese Möglichkeit nicht gehabt, hätte ich den Kompromiss akzeptiert und das Kopftuch in der Schule nicht getragen.

 

Wer oder was hat Ihnen geholfen, dass Sie das Kopftuch bis heute tragen?

Zunächst einmal hat mir mein Glaube die Stärke gegeben. Und dann wurde es irgendwann zur Gewohnheit, dass Menschen mich wegen des Kopftuchs anschauen und darauf ansprechen. Vor allem hat mir die Arbeit an der Universität geholfen. Dort spielt es überhaupt keine Rolle, was ich trage. Es kommt darauf an, was ich denke, welche Ideen ich habe und ob ich gut mit anderen zusammen arbeiten kann. Dort kann ich sein, wie ich bin. Das ist das Schöne an der Universität, sie ist ein geschützter Raum, wo das Interesse an Wissenschaft im Vordergrund steht.

 

Aber in manchen Berufen haben Frauen ein Problem, wenn sie Kopftuch tragen.

Früher haben Frauen mit Kopftuch hier in Deutschland hauptsächlich als Putzfrauen gearbeitet, da hat das Kopftuch überhaupt nicht gestört. Heute machen viele Frauen eine Ausbildung oder absolvieren ein Studium und kommen entsprechend in höher gestellte Berufe, etwa in Banken, in der Medizin oder im juristischen Bereich. Und plötzlich ist das Ganze ein Problem geworden. Es ist die Frage, ob es überhaupt objektive Gründe für ein Verbot des Kopftuchs in bestimmten Berufen gibt. Wenn es die nicht gibt, ist ein Kopftuchverbot nicht mit dem Grundgesetz vereinbar – wie das Bundesverfassungsgericht für die Schulen ja entschieden hat. Wenn Frauen wegen des Kopftuchs auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden, sollten sie sich wehren und sich an Anti-Diskriminierungsstellen wenden.

 

Müssen muslimische Frauen ein Kopftuch tragen und wie muss es aussehen? Was sagt der Koran dazu?

Diese theologische Frage ist kompliziert. Im Koran gibt es drei Stellen, wo die Kleidung der Frau angesprochen wird. Was meint Gott, wenn er darüber spricht? Die Theologen versuchen das herauszufinden. Dschilbab ist ein Tuch oder ein Übergewand, das die Frauen früher über ihre Schultern geworfen haben. Scheinbar war davon die Brust nicht bedeckt. Der Koran fordert nun, dass Frauen sich gemäßigt kleiden und nicht ihre Reize zur Schau stellen sollen. Dann gibt es eine zweite Stelle, wo es um die Frauen des Propheten geht. In diesem Zusammenhang wird von einem Hidschab gesprochen. Aber dabei geht es nicht um ein Kopftuch, sondern um eine Trennwand oder einen Vorhang. Die Frauen des Propheten sollen nicht belästig werden, indem man einfach bei ihnen eintritt, daher soll über diesen Vorhang die Distanz gewahrt werden. In einer dritten Stelle im Koran geht es um den Khimar. Auch hier geht es darum, dass Reize bedeckt werden sollen, dass die Scham gehütet werden soll. Die Bedeckung des Kopfes war zu der damaligen Zeit auch ein Zeichen für freie, ehrbare Frauen, also ein Zeichen für den sozialen Status einer Frau. Sklavinnen beispielsweise haben ihr Kopf nicht bedeckt. Die Bedeckung sollte davor schützen, nicht durch Blicke von anderen belästigt zu werden. Im Koran ist das also nicht eindeutig. Wir berufen uns auf die Tradition des Propheten. Das Kopftuch hat für viele Frauen heute eine spirituelle Bedeutung. Sie drückt die Nähe zu Gott aus, die Hingabe zu ihm und das Vertrauen in ihn. Vielleicht war es auch früher so, ich weiß es nicht. In den verschiedenen muslimischen Ländern und im Westen haben sich über die Jahrhunderte unterschiedliche Formen entwickelt. Es gibt auch moderne Formen, die beispielsweise wie ein Turban ganz chic aussehen.

 

Ist das nicht ein Problem, wenn man den Hals sieht?

Das ist nicht wirklich festgelegt. Heute gibt es auch ganz viele neue modische Formen, denn die Frauen, junge wie alte, wollen ja gut aussehen. Und so passen sie sich an den Kleidungsstil der Umgebung, an die Mode an. Theologisch gesehen kann man nicht sagen, was richtig oder falsch ist. Das Kopftuch hat im Großen und Ganzen den Sinn, Frauen vor Belästigungen zu schützen. Wenn sie jetzt hier im Westen gerade wegen des Kopftuchs belästigt werden – man hört ja immer wieder, dass Frauen mit Kopftuch angespuckt werden –, dann verliert das Kopftuch die Schutzfunktion. Man muss auch sehen: Der Islam ist im Wandel. Neue Situationen und neue Fragen erfordern neue Antworten, weil es sie in dem historischen Kontext, in dem der Koran entstanden ist, nicht gab. Es gibt Regeln, die vor 1400 Jahren gut und richtig waren, die wir aber heute neu denken müssen.

 

Also ist es freiwillig, das Kopftuch zu tragen?

Ja, es ist die freie Entscheidung einer Frau, ein Kopftuch zu tragen oder nicht. Es ist in Deutschland ja kein gültiges Recht, dass eine Frau das Kopftuch tragen muss. In Saudi-Arabien ist das anders. In Deutschland kann eine Frau zu dem Schluss kommen: Hier brauche ich den Schutz durch das Kopftuch nicht, der Staat beschützt mich ja, ich lebe hier in einem Rechtsstaat. Sie kann aber auch zu dem Schluss kommen, dass der Schutz hier nicht im Vordergrund steht, sondern die Beziehung zu Gott.

 

Müssen die Haare vom Kopftuch bedeckt werden oder nicht?

Das ist eine sehr subjektive Angelegenheit. Es gibt in der Tradition keine Belege dafür. Ich kann daher nicht sagen, was richtig oder falsch ist. Ich kenne Frauen, die das Kopftuch gerne weiter hinten tragen, so dass man Haare sieht, und ich kenne Frauen, bei denen man keine Haare sieht. Eine Frau sollte das Kopftuch so tragen, dass sie sich damit wohl fühlt.

 

Reicht es, nur das Kopftuch zu tragen und dazu vielleicht ein T-Shirt oder eine Hose? Muss es ein langes Kleid oder kann es auch ein kurzes sein?

Bei dieser Frage geht es um die „Aura“ der Frau, also die Blöße, die im Islam bedeckt werden muss. Es gibt eine definierte Aura des Mannes, wo er sich bedecken soll, meist zwischen Bauchnabel und Knie. Und es gibt eine Aura der Frau, die sie bedecken soll. Und dazu äußern sich die Theologen ganz unterschiedlich. Manche sagen sogar, dass auch das Gesicht und die Füße dazugehören und bedeckt sein müssen, andere teilen diese Ansicht nicht. Aus dem Koran heraus ist das nicht abzuleiten. Sie sehen, es sind Menschen, die das in einem Rechtssystem für eine bestimmte Gesellschaft festlegen.

 

Sollen schon Mädchen ein Kopftuch tragen oder sollen sie mit 18 Jahren, wenn sie volljährig sind, selbst darüber entscheiden?

Das ist eine gute Frage. Man muss hier den Einzelfall betrachten. Es gibt Mädchen, die das Kopftuch tragen wollen, weil sie zur Welt der Großen dazugehören wollen. Wenn das Kind das selber möchte, dann soll es das auch ausprobieren können. Wenn es ihr dann nicht gefällt, kann sie es auch wieder ablegen und vielleicht später wieder anziehen. In dieser sehr individuellen Frage sollte nicht mit Zwang gearbeitet werden. Nicht durch eine Vorschrift, dass ein Mädchen, weil es ein bestimmtes Alter erreicht hat, zum Kopftuch gezwungen wird. Aber auch nicht durch ein Verbot, das Kopftuch zu tragen, weil es noch zu jung ist.

 

Muss man beim Beten das Kopftuch tragen?

Es ist islamische Tradition, beim Gebet und im Gottesdienst Kopftuch zu tragen. Das dient auch der Ehrerbietung gegenüber Gott. Die Mehrheit der Musliminnen macht das so, aber es gibt natürlich auch Frauen, die dies nicht tun.

 

Kann eine Muslimin ihre Ehrfurcht vor Gott auch ohne Kopftuch zeigen?

Ja, das Kopftuch ist kein Grundpfeiler des Glaubens wie das Gebet und das Fasten. Das ist eine Frage, die nur mich und Gott etwas angeht. Nur Gott kann meine Gläubigkeit und meine Religiosität beurteilen, das kann und darf kein anderer Mensch. Das dürfen wir auch keinem anderen Menschen erlauben, uns zu sagen, ob wir gut oder schlecht, religiös oder unreligiös sind.

 

 

### Bio-Kasten:

Fahimah Ulfat ist in Kabul, Afghanistan, geboren und kam 1984 mit ihren Eltern nach Deutschland. Sie studierte Lehramt für die Primarstufe an der Universität Duisburg-Essen und arbeitete anschließend an verschiedenen Grundschulen in Essen. 2016 promovierte sie über die Gottesbeziehungen muslimischer Kinder. Seit Januar 2017 ist sie Juniorprofessorin und Lehrstuhlinhaberin für Islamische Religionspädagogik am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Tübingen. Sie forscht über die Glaubenskonzepte von muslimischen Jugendlichen in Deutschland.

 

### Kasten 1:

Warum trägst du Kopftuch?

Das habe ich meine Freundin Dima (Name geändert) gefragt, 24 Jahre alt und mit ihrer Schwester jetzt in Deutschland.

„Das Kopftuch ist für mich vor allem ein Dienst an Gott, da es so im Koran vorgeschrieben ist.“ Sie findet das Kopftuch als etwas Wichtiges in ihrem Leben und sie hat erzählt, dass sie 12 Jahre alt war, als sie das Kopftuch zum ersten Mal getragen hat. Das Kopftuch gehört zu ihrem Glauben, sagt sie, aber in Deutschland findet sie mit dem Kopftuch nur schwer einen Arbeitsplatz. „Aber das Kopftuch zu tragen, ist für viele Frauen sehr wichtig.“

Das Interview führte Aliaa Abd Khalaf.

 

### Kasten 2:

Die Freiheit, ein Kopftuch zu tragen oder nicht

Fatima, 25 Jahre alt, kommt aus Afghanistan und besucht bei der vhs in Tübingen einen Sprachkurs. Sie wohnt in Kusterdingen.

Ich habe sie nach ihrer Meinung zum Tragen des Kopftuchs gefragt. Sie sagt, dass sie sich mit dem Kopftuch nicht gut gefühlt und sich sogar geschämt hat. Sie wollte in eine offene Gesellschaft kommen, wo niemand ein Kopftuch trägt. Am Anfang war es sehr schwer für sie, das Kopftuch einfach wegzulassen. Aber jetzt fühlt sie sich besser ohne Kopftuch. Sie denkt, dass sie jetzt wie die anderen lebt. Für Mädchen unter 18 Jahren ist es für sie besser, wenn sie kein Kopftuch tragen müssen, auch wenn die Familie dafür gute Gründe hat oder es von der Religion vorgeschrieben wird. Für Fatima macht es keinen Unterschied, ob Frauen Kopftuch tragen oder nicht, für sie sind alle gleich.

Ihr Mann meint, dass Frauen kein Kopftuch tragen müssen, sondern selbst darüber entscheiden sollen. Er sagt, dass Frauen mit dem Kopftuch schöner aussehen. Für ihn ist das Kopftuch, der Hidschab, ein modisches Kleidungsstück.

Das Interview führte Fatima Salehi.

 

### Kasten 3:

Keine Ausbildung mit Kopftuch? Aber: Ist das nicht ein Menschenrecht?

Madine, 31 Jahre alt, kam vor drei Jahren mit ihrem Mann und ihren drei Töchtern aus dem Iran nach Deutschland. Sie ist aus Ahwaz und gehört zu der Minderheit, die Arabisch und nicht Farsi als Muttersprache hat. Sie berichtet:

„Ich habe das Kopftuch seit meinem ersten Schuljahr getragen, das war Vorschrift im Iran. In Deutschland möchte ich eine Ausbildung machen und habe mich zunächst als Altenpflegerin, dann als Verkäuferin beworben. Ich habe nur Absagen ohne Begründung bekommen. Bei einem Vorstellungsgespräch, das nur 5 Minuten dauerte, hat die Chefin einer Bäckerei mir gesagt, dass eine Ausbildung mit Kopftuch nicht möglich ist. Ich habe dann die schwere Entscheidung getroffen, mich das nächste Mal ohne Kopftuch zu bewerben. In einem Supermarkt habe ich so ein Praktikum und die Zusage für eine Einstiegsqualifizierung und danach für die Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau bekommen. Seitdem trage ich kein Kopftuch mehr. Das ist nicht leicht für mich, meine Eltern, die noch im Iran leben, wissen das nicht, denn ich kann es ihnen nicht sagen. Aber ich denke, ich kann meinen Glauben auch ohne Kopftuch leben. Es gibt viele muslimische Frauen, die auch kein Kopftuch tragen. Mein Mann hat kein Problem damit. Er sagt, dass es auf ein sauberes Herz ankommt und nicht darauf, ob eine Frau ein Kopftuch trägt oder nicht. Aber eigentlich habe ich gedacht, dass es auch in Deutschland ein Menschenrecht sein sollte, seinen Glauben durch ein Kopftuch zeigen zu können und trotzdem eine Ausbildung machen zu dürfen.“

Das Interview führte Michael Seifert.

 

### Kasten 4:

Durch Begegnungen Vorurteile abbauen

Ein Interview zum Thema Kopftuch mit Angelika Reicherter, der Initiatorin des Projekts „Junge Heldinnen“.

Was denkst du persönlich über das Kopftuch?

Ich habe nicht wirklich eine Meinung zum Kopftuch. Ich denke es ist Ausdruck von Werten einer Religion. Also etwas sehr Persönliches, was man von seinen Eltern mit auf den Weg bekommen hat. Ich verstehe, dass das Kopftuch einem Heimat und Zugehörigkeit gibt, vielleicht auch Halt, wenn man in der Fremde von anderen Eindrücken manchmal überrollt wird. Ich glaube das Kopftuch ist etwas sehr Intimes und Wichtiges für die Frauen, die Kopftuch tragen.

Wie soll die Gesellschaft damit umgehen, dass die Frauen, die Kopftuch tragen, im Alltag und vor allem im Beruf Schwierigkeiten haben?

Ich glaube, dass viele Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne Kopftuch helfen können, Vorurteile abzubauen. Toleranz ist etwas, was man durch neue Erfahrungen trainieren muss – so denke ich, dass man ganz viele Möglichkeiten schaffen muss, dass immer wieder Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen stattfinden können, um Berührungsängste abzubauen.

Wie sind deine alltäglichen Erfahrungen mit dem Kopftuch?

Die Frauen, die ich mit Kopftuch näher kennen gelernt habe, waren immer sehr angenehme Frauen. Wir haben uns gut verstanden. Das hilft mir, keine Berührungsängste zu haben. Aber ich muss auch sagen, dass ich Schwierigkeiten habe, Frauen mit Kopftüchern auseinander zu halten. Es ist schon passiert, dass ich jemanden gegrüßt habe, und dann später festgestellt habe, ich habe die falsche Person begrüßt – einfach weil ich sie durch das Kopftuch nicht richtig erkannt habe.

Das Interview führte Halima Ibrahim.

 

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