Das erste Semester – eine Deutsch-Syrerin berichtet

Von Michael Seifert

Redaktionsmitglied Reem Al Sagheer studiert seit Oktober 2021 an der Universität Tübingen Mathematik und Islamische Theologie. Sie ist mit ihrer Familie aus Damaskus geflüchtet und lebt seit über sieben Jahren in Deutschland. Letztes Jahr hat sie in Tübingen Abitur gemacht und ist inzwischen deutsche Staatsbürgerin. Für tünews INTERNATIONAL erzählt sie von ihren Erfahrungen im ersten Semester.

„Mein erster und wichtigster Eindruck war, dass an der Uni ein ganz anderes Niveau als an der Schule herrscht. Das hatte ich mir nicht so schwer vorgestellt. Das liegt nicht an meinen Deutschkenntnissen, sondern am Stoff“, beginnt Reem. In Mathematik sei es für sie und für alle besonders schwer: „Ich lerne eine ganz neue Mathematik kennen, eine ganz andere als an der Schule. Und ich dachte immer, ich bin gut in Mathe! Obwohl ich jeden Tag lerne, weiß ich nicht, ob ich die Prüfungen, die jetzt kommen, schaffen werde.“

Kritisch sieht sie die Vorlesungen: „Die Professoren lesen die Vorlesung wirklich nur vor und erklären gar nichts. Deshalb bekomme ich so wenig mit. Und so geht es auch den anderen.“ Außer dem Professor sage niemand etwas, denn in den Vorlesungen seien über 100 Studierende. „Ich habe das Gefühl, dass keiner sich traut, etwas zu sagen“, meint Reem.

Ganz anders sei es in der Islamischen Theologie, da werde schon viel erklärt: „Da gibt es immer jemand, der was fragt oder ergänzt. Auch wenn man anderer Meinung ist als der Dozent, kann man schon etwas sagen.“ Als Arabisch-Muttersprachlerin habe sie auch keine Probleme mit der Sprache, das sei für die anderen schon eine große Schwierigkeit. Von den Arabisch-Kursen ist Reem aufgrund einer Prüfung über ihre muttersprachliche Kompetenz befreit.

 

Im ersten Semester geht es für Reem und die 18 Erstsemester, überwiegend Frauen, um vier Fächer: Wissenschaftliches Arbeiten, Einführung in das Studium der Islamischen Theologie, islamische Geschichte und das Leben des Propheten Mohammed. „Ich lerne viele neue Sachen, manchmal bin ich anderer Meinung als der Professor, weil ich denke, dass das so nicht stimmt, aber der Professor beharrt auf seiner Meinung.“

Die Pandemiesituation hat Reem nicht sehr beeinträchtigt, alle Veranstaltungen liefen in Präsenz: „Weil ich geimpft bin, gibt es für mich keine Probleme. Aber in Islamischer Theologie sind fünf von uns ungeimpft. Auch in Mathe kenne ich einige. Alle diese durften für lange Zeit nicht mehr an die Uni kommen.“ Reem sieht das eher kritisch, aber sie weiß, dass es keine andere Wahl gibt. Sie kennt eine Kommilitonin mit einer Spritzen-Phobie, die sich deshalb nicht hat impfen lassen können. In den Unigebäuden bestehe grundsätzlich Maskenpflicht und die Impfbescheinigungen würden täglich kontrolliert.

Die sozialen Angebote neben dem Studium hat Reem noch nicht wirklich wahrgenommen. Es gebe Angebote von höheren Semestern in einer WhatsApp-Gruppe wie Unibesichtigungen, Spieleabende oder Kneipenbesuche, aber da habe sie nie mitgemacht. Auch mit den Leuten aus ihrem Semester trifft sie sich nur zum Lernen. „Das Semester ist so stressig, dass ich soziale Kontakte und Leute kennenzulernen als letztes brauchte. Aber das kommt vielleicht noch, wenn man länger zusammen studiert hat.“ Dass sie Kopftuch trage, habe an der Uni niemanden gestört, dort gebe es viele Frauen, die Kopftuch tragen.

Reems Fazit über ihr erstes Semester fällt skeptisch aus: „Ich bin mir gar nicht mehr sicher, was für mich jetzt wirklich passt. Inzwischen überlege ich zu wechseln, wenn ich keine wirkliche Leidenschaft für die Fächer entwickle. Vielleicht wäre Medienwissenschaft eine Option.“ Auf jeden Fall will sie noch mal mit den Leuten in der Studienberatung sprechen, welche Möglichkeiten für sie noch in Frage kommen könnten.

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Eine Filiale der Buchhandlung Osiander. Foto: tünews INTERNATIONAL / Mostafa Elyasian.

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