Vortrag von Wolfgang Sannwald am 27.1.2023 in Mössingen
zu: 90 Jahre Mössinger Generalstreik, gehalten am 27.1.2023 in der Langgassturnhalle Mössingen
1. Erinnerungskulturelle Lager
Meine Damen und Herren,
Kennen Sie Ricola? Finnen in der Sauna behaupten, ein Kräuter-Bonbon erfunden zu haben. Ein Schweizer meldet sich zu Wort: ‚Wer hat’s erfunden‘? Manchmal denke ich, dass es in der Erinnerungskultur eine Art von Ricola-Effekt gibt. In der Fernsehwerbung geht es um den Wert einer Marke, in der Erinnerungskultur um Deutungshoheit: Wer hat das Sagen? Auch beim Mössinger Generalstreik finde ich Erzählungen von dessen Vergessen, Entdecken und Erfinden. Auch beim Mössinger Generalstreik verbinden sich diese Erzählungen mitunter mit dem Anspruch zu sagen, was „man“ von dem Ereignis zu denken hätte.
Zunächst herrschte 1933 alles andere als Vergessen. Das Ereignis produzierte Schlagzeilen: „Landfriedensbruch! Wilder Streik in Mössingen – Das Ueberfallkommando greift ein!“ titelte der – eigentliche biedere – Steinlachbote am 1. Februar 1933. Damals ließ die Staatsgewalt 27 Mössinger, 14 Belsener und 12 Nehrener in den Gefängnissen von Tübingen, Rottenburg, Esslingen, Nürtingen, Böblingen, Reutlingen und Hechingen in Untersuchungshaft nehmen. Von der männlichen Bevölkerung ab 21 Jahren in Mössingen und Belsen dürfte die Polizei drei Prozent abgeholt haben. Was für ein Skandal! Welche Story! Ein Dorf mit so vielen Verdächtigen brächte es heutzutage unbedingt vor die Kameras von Illner, Will oder Lanz. Damals hatten die Nazis die Deutungshoheit. Deren Propaganda diffamierte den „Aufstand“ und zelebrierte den Sieg über die Kommunisten.
Wie wirkte der überregionale Medien- und Propagandahype innerorts? Das hing davon ab, welchem „Lager“ der einzelne Mössinger, die einzelne Mössingerin zuneigte. Davon gab es zugespitzt zwei: das „linke“ Mössingen und das „andere“ Mössingen. In Haft mussten Angehörige des linken Lagers. Sie lebten mit ihren Familien im Dorf, gingen hier im Konsum einkaufen, tranken ein Bier im Lamm, besuchten vielleicht manchmal den Gottesdienst, hatten Schulfreunde, Kameraden im Arbeiter-Turn- und Sportverein, im Arbeiter-Gesangverein, im Radfahrerverein. Wer in Mössingen „links“ dachte, wird mit den Häftlingen sympathisiert haben.
Im Dorf lebten aber auch die politischen Gegner der Inhaftierten und diejenigen, die sich abseits hielten. Alleine 42 Prozent der Mössinger Wahlberechtigten hatten bei den Reichstagswahlen im November 1932 für die NSDAP gestimmt. Die hätten sich vermutlich lieber einem anderen Demonstrationszug angeschlossen, einem Fackelzug mit dem die SA damals in vielen Städten die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler feierte. Triumphierten sie nach der Verhaftungswelle über die „Linken“? Ließen sie die Inhaftierten und ihre Freunde Häme spüren?
Und mit wem sympathisierten die, die sich noch abseits hielten?
Bereits unmittelbar nach der Auflösung des Demonstrationszuges diskutierten die MössingerInnen nach Aussagen von Zeitzeugen „noch überall stundenlang“ die Ereignisse. Je nachdem, welchem Lager sie sich nahefühlten, deuteten sie. Ihre Erzählungen und Sichtweisen tauschten sie auch weiterhin untereinander aus, Zeitzeugen berichteten an unterschiedlicher Stelle, wie sie Jahrzehnte später in der Werkstatt von Vater oder Opa Gespräche über den Generalstreik mithörten. Die Erzählungen gruben sich in die lebendigen Gedächtnisse ein, stabilisierten und verstärkten sich innerhalb des jeweiligen Lagers.
Die Mössinger Erinnerungskultur erscheint mir seitdem gesättigt von der erinnerungskulturellen Fortführung des Lagerverhaltens im Januar 1933.
Wer vom vergessenen Generalstreik sprach, meinte meist, dass seine Sichtweise oder Deutung zu wenig Anerkennung fand. Wer ihn wiederentdeckte, beanspruchte oft die Deutungshoheit. Das Ringen um die Deutungshoheit in der Erinnerungskultur spitzte sich zwischen 1973 und 1983 zu. Bereits damals trat die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) als Akteur für eine Würdigung der Generalstreiksteilnehmer auf. Dieser Vereinigung hatten sich nach 1945 viele ehemals Verfolgte angeschlossen. Da die Nazis zunächst vor allem Kommunisten, dann Sozialdemokraten verfolgt hatten, prägten diese auch die VVN. Von Mitte der 1950er Jahre bis in die 1970er Jahre hinein hemmte der Antikommunismus des Kalten Krieges die VVN und deren Anstrengungen zur Aufwertung des kommunistisch initiierten Mössinger Generalstreiks.
Das 1973 erschienene Mössinger Heimatbuch von Martin Haar ist noch durchdrungen von dieser erinnerungskulturellen Situation. Haar hat auf Seite 161 unter der Überschrift „Das politische Leben“ den Generalstreik etwa auf einer halben Seite dargestellt. Das war gar nicht so wenig in seiner 300-seitigen Gesamtschau von Mammutzähnen aus der Altsteinzeit bis zur damaligen „Gegenwart“ der Stadt. Haar bot als sein Deutungshintergrund für die „Revolution in Mössingen“ indessen die „gewaltigen Leistungen der deutschen Heere“ auch im Zweiten Weltkrieg an. Die Ausstellung über Verbrechen der Wehrmacht sorgte erst Jahrzehnte später für Furore. Der Mössinger Generalstreik war also nicht vergessen, er war aber tendenziell negativ gedeutet.
In dieser Zeit ging es um die Wiederentdeckung des „linken“ Mössingen, verbunden mit dem Anspruch, den Generalstreik positiv zu werten. Dies taten in zeitlichem Anschluss und als Gegenentwurf zum Mössinger Heimatbuch Forschungsprojekte des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen, die ihre Ergebnisse 1982 in dem Buch „Da ist nirgends nichts gewesen außer hier“ veröffentlichten. Sie forschten gezielt über die Mössinger Arbeiterkultur und den Generalstreik. In dieser Zeit erstarkte gleichzeitig die Friedensbewegung. Die VVN und verbündete Organisationen deuteten 1983 den Generalstreik tagespolitisch und verknüpften Demonstration und Kundgebungen zu dessen 50jährigem Jubiläum in Mössingen mit Abrüstungsaufrufen. Über 10.000 Menschen aus der ganzen Bundesrepublik folgten dem Demonstrationszug in Mössingen, eigneten sich und den Themen, die sie vertraten, den Generalstreik insofern an.
In den lebendigen Erinnerungen der MössingerInnen und punktuell im öffentlichen Diskurs rangen aber weiterhin mindestens zwei erinnerungskulturelle Lager um Deutungshoheit.
2. Quellenlage
Wenn Sie sich den Mössinger Generalstreik persönlich aneignen möchten, empfehle ich Ihnen den Besuch der aktuellen Ausstellung im Heimatmuseum zum Thema. Und den heimischen Internetanschluss. Denn das Staatsarchiv Sigmaringen hat die Akten der Prozesse über den Mössinger Generalstreik vor dem Landgericht Tübingen 1933 und 1953 eingescannt und auf seiner Homepage veröffentlicht. Signatur: Wü 28/3 T 13 L 38/33A. Sie finden darin, wie die Polizei die Ereignisse seinerzeit rekonstruiert hat und sehr viele Vernehmungsprotokolle. Wenn Sie andere wesentliche Quellen einsehen wollen, müssen Sie persönlich ins Stadtarchiv. Dem hat Bernd Jürgen Warneken originale Tonaufzeichnungen und Abschriften mehrstündiger Interviews mit 23 Personen übergeben. Die Interviews entstanden in Projektseminaren des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft seit 1974. Im Vorwort zur Neuauflage des daraus entstandenen Buches „Da ist nirgend nichts gewesen außer hier“ 2012 hat Warneken die Ausrichtung dieser Forschungsseminare verdeutlicht: „Nun, wir haben bewusst nicht die Geschichte Mössingens, sondern nur die des roten Mössingen im ganzen Mössingen geschrieben.“
Beide Quellengruppen zum Generalstreik sind eine Schnittmenge aus StreikteilnehmerInnen von 1933 und Angehörigen des Mössinger Arbeitermilieus. Das ist nicht repräsentativ für alle DemonstrantInnen von damals, denn der Staatsanwalt wählte aus, wen er für strafwürdig hielt. Die Studierenden interviewten ihrerseits vor allem ZeitzeugInnen aus dem Arbeitermilieu. Diese Quellen sind deshalb überhaupt nicht repräsentativ für alle MössingerInnen des Jahres 1933. Ich wünschte mir tatsächlich mehr Interviews mit Zeitzeugen des „anderen“ Mössingen. Deren lebendige Erinnerung funktionierte nur etwa drei Generationen lang, 80 Jahre vielleicht. Die ForscherInnengruppe des Ludwig-Uhland-Instituts hat nur wenige Interviews mit Angehörigen des “anderen” Mössingen geführt. Heute, nach 90 Jahren, sind die einstigen lebendigen Erinnerungen des „anderen“ Mössingen deshalb einem eher diffusen Empfinden aus zweiter oder dritter Hand gewichen.
Aber keine Sorge: Solche nicht repräsentativen Quellenlagen sind ein Standardfall in der Geschichtswissenschaft. Wir HistorikerInnen erarbeiten uns zunächst ein Bewusstsein von dieser Quellenlage, sodann analysieren wir die Quellen nicht nur innerlich, sondern wir ordnen sie in den historischen Kontext ein. Um diesen Kontext des Mössinger Generalstreik geht es mir im Folgenden.
3. Das linke Steinlachtal
Aus den Verfahrensakten wegen Hochverrats vor dem Oberlandesgericht Stuttgart vom November 1933 zum Mössinger Generalstreik geht hervor, dass die hiesigen Kommunisten Martin Maier, Hermann Ayen, Christoph Gauger und Jakob Stotz die Demonstration und die Streikmaßnahmen am 31. Januar 1933 in Mössingen im wesentlichen organisierten. Die Richter der Nazizeit verurteilten alle zu Gefängnis, jeweils für etwas mehr oder weniger als zwei Jahre. Die örtlichen Kader handelten in Übereinstimmung mit dem übergeordneten KPD-Unterbezirk Reutlingen. Bei dessen Leiter, Fritz Wandel, verhängte das OLG im selben Verfahren eine etwa doppelt so lange Gefängnisstrafe von viereinhalb Jahren. Er hatte das Flugblatt seiner Parteioberen mit dem Aufruf zum Massenstreik ernst genommen. Es kursierte nicht nur in Mössingen, sondern beispielsweise auch vor Reutlinger Fabriken. Von Mössingen aus ließ sich Wandel noch am 31. Januar 1933 nach Lustnau fahren und rief auch dort persönlich zum Streik auf. Das OLG Stuttgart verurteilte außerdem den KPD-Landesvorsitzenden Albert Buchmann zu drei Jahren Gefängnis. Er hatte das Flugblatt „Massenstreik“ unterzeichnet. Die Urteile von damals belegen eindeutig, dass der erinnerungskulturelle Anschluss heutiger „Linker“ an den Generalstreik berechtigt ist. Allerdings ließen reichsweite Organisationsstufen und andere Bezirke der KPD Fritz Wandel und die Mössinger Kommunisten hängen, so dass ihre Demonstration und ihre Streikaktion vereinzelt und örtlich blieben. Es geht deshalb beim Mössinger Generalstreik mehr um Regionalgeschichte als um Republikgeschichte. Und es geht nicht nur um Kommunisten, auch wenn deren Kader ihr Corporate Design, drei rote Fahnen, der Zugspitze voranstellten.
Im Demonstrationszug von 1933 liefen etwa 700 Menschen mit, gegen die der Staatsanwalt seinerzeit nicht ermittelte. Sie entsprachen nicht seinem Täterprofil. Ich bezeichne sie zunächst als Angehörige des „linken Milieus“. Wenn man die Zusammensetzung der 81 Angeklagten vor dem Landgericht Tübingen als Auswahl betrachtet, stammten sie nicht nur aus Mössingen, sondern aus einem näheren Umland. Von den 81 Angeklagten lebten damals 40 in Mössingen, 19 in Nehren, 15 in Belsen, 4 in Talheim, 2 in Bodelshausen und eine Person in Öschingen. Es handelte sich um Menschen aus dem „linken Steinlachtal“. Dieser politisch-geografische Raum reichte von Bodelshausen im Westen bis Dußlingen und Gomaringen im Osten. Hier bildeten zwischen 1919 und 1932 vor allem ArbeiterInnen, Pendler, aber auch nicht wenige Handwerker und ihre Familien ein gemeinsames Wählerreservoir für SPD und KPD von durchschnittlich 45 Prozent aller Stimmen. Die evangelischen Pfarrer in Dörfern des Steinlachtals verzweifelten fast unisono an einer Bevölkerung, die „ziemlich revolutionär gestimmt“ oder „fast durchweg kommunistisch verseucht“ sei. Wie viele dieser „Linken“ im Steinlachtal lehnten seit 1928 im Anschluss an die KPD-Reichsleitung das demokratische System der Weimarer Republik ab? Wie viele wollten eine Diktatur des Proletariats nach stalinistischem Muster an der Steinlach errichten? Und wie viele trugen den kommunistischen Vorwurf des „Sozialfaschismus“ gegen die republikbejahende SPD mit? Wie viele beteiligten sich an Feindseligkeiten gegen die jeweils andere linke Partei im Steinlachtal? Solche Feindseligkeiten sind überliefert: In Dußlingen verließen 1932 etwa 50 KPD-Mitglieder den dortigen Arbeitersportverein und gründeten die „Rote Sportunion Dußlingen“. Nachdem in Mössingen Mitglieder der KPD die Führung des Arbeiter-Turn- und Sportvereins übernommen hatten, verließen viele Sportler diesen Verein. In Bodelshausen sägten angeblich Mitglieder des KPD-nahen Radfahrervereins das Fußballtor des SPD-nahen Turnvereins ab.
Fest steht, dass die politische Situation gegen Ende der Weimarer Republik eskalierte und vor allem der KPD Zulauf brachte. Im Steinlachtal erzielte die linksextreme Partei im November 1932 durchschnittlich 28 Prozent der abgegebenen Stimmen. Ihre hiesigen Hochburgen hatten die Kommunisten – in der Rangfolge der Stimmanteile – in Bodelshausen, Nehren und Mössingen. Demgegenüber konnte die SPD nur noch 17 Prozent hinter sich vereinigen. Der Schwerpunkt der Sozialdemokratie lag in Gomaringen, wo die KPD praktisch keine Rolle spielte. Es hing offenbar von örtlichen Gegebenheiten ab, welche Partei im November 1932 jeweils im linken Milieu dominierte. Prinzipiell hatte damals auch die Sozialdemokratie das Potential zum Widerstand im linken Steinlachtal. Das zeigt ein Blick auf Gomaringen in der Zeit der nationalsozialistischen „Machtergreifung“. Die “Machtergreifung” ist ein Prozess, an dessen Anfang die Machtübergabe durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg an Adolf Hitler stand, als er diesen am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte. Der Prozess der Machtergreifung endete, als die NSDAP am 24. März 1933 mit Formen eines Staatsstreichs das „Ermächtigungsgesetz“ durchdrückte.
Am Tag nach der Machtergreifung fand in Gomaringen noch einmal eine freie Bürgermeisterwahl statt, am 25. März 1933. Gerade angesichts der reichsweiten Vorgänge machten vor allem Gomaringer SPD-Akteure die Bürgermeisterwahl zu einem Votum gegen den Kandidaten der NSDAP. Der scharfe Wahlkampf mobilisierte fast alle Wahlberechtigten. Letztlich unterlag der NSDAP-Kandidat mit 45 Prozent. Die NSDAP habe, so ein Zeitzeuge später, „mit einem kolossalen Sieg gerechnet, denn der alte Bürgermeister war nicht sehr beliebt gewesen“. „Als nun das Wahlresultat herauskam, stellte sich heraus, dass die Partei eine Niederlage erlitten hatte und doch der alte Bürgermeister wiedergewählt wurde.“ Nun sei der Hass entbrannt. Örtliche NSDAP-Akteure und nationalsozialistische Landesregierung intrigierten, bis das Innenministerium einen überzeugten Nationalsozialisten als Bürgermeister in die Gemeinde schickte. Am 21. April 1933 schlug dann der NS-Machtapparat zurück. SA und Polizei verhafteten schlagartig 14 Gomaringer und brachten sie ins KZ-Schutzhaftlager Heuberg. Das waren achtmal mehr KZ-Häftlinge als im landesweiten Durchschnitt. Diese „Heubergsache“ haftete seitdem der Gomaringer Erinnerungskultur ähnlich lagerbildend an wie im Fall Mössingens der Generalstreik. Das Beispiel zeigt, dass sowohl Akteure der KPD wie auch der SPD 1933 Widerstand von Menschen aus dem „linken“ Steinlachtal mobilisieren konnten.
4. Das andere Steinlachtal
Neben dem „linken“ Milieu im Steinlachtal gab es das andere Steinlachtal. Es war größer als das der „Linken“. Wer will heute erinnerungskulturell Anschluss an diese Wählergruppen der Weimarer Republik suchen? Das kann eigentlich nur mit großer kritischer Distanz geschehen. Selbst oder besonders, wenn sich jemand an kirchlichen Wählergruppen orientieren möchte. Das waren im Steinlachtal des Jahres 1933 fast ausschließlich evangelische Christen. Nicht wenige von ihnen intensivierten ihr religiöses Leben dadurch, dass sie an den „Stunden“ der Hahn´schen oder altpiestistischen Gemeinschaften teilnahmen. Diese Gemeinschaften rieten längere Zeit von einem politischen Engagement ab. Das änderte sich, als WählerInnen auf den Wahlzetteln zum Berliner Reichstag den Christlich Sozialen Volksdienst (CSV) ankreuzen konnten. Diese evangelische Konfessionspartei hatte ihren regionalen Schwerpunkt im Korntal und gewann insbesondere unter Anhängern pietistischer Gruppen – in zeitgenössichen Quellen heißt es „Stundenleuten“ – Rückhalt. Der evangelische Pfarrer von Dußlingen notierte: „Wir haben die kommunistisch-sozialdemokratische Linke einerseits, andererseits die pietistisch-orthodoxe Rechte, die demokratische, mehr oder weniger kirchliche Mitte ist schwach und hat wenig Initiative.“ Dem CSV gelang es bei den Wahlen 1930 frühere Nichtwähler im Umfeld der „Stunden“ zu aktivieren. Im Mössinger Ortsteil Belsen verdoppelte sich damals die Wahlbeteiligung und die Wählerinnen und Wähler katapultierten den CSV auf 55 Prozent! Im bevölkerungsreicheren Mössingen erzielte er knapp 40 Prozent. Der CSV gewann vor allem dort, wo pietistische Kreise gut organisiert waren oder „Evangelisationen“ stattgefunden hatten. Bei solchen Erweckungsveranstaltungen predigten Missionare eine Woche lang vor Ort und wirkten auch in weitere Formen des Gemeindelebens hinein.
Beispielsweise holte im nahen Gomaringen der Ortspfarrer im Februar 1932 den Missionar Otto Lohß (1881–1961) aus Stuttgart-Fellbach. Der stand im Dienst der Basler Mission und trug seine Predigten zwar mit „zwingender Logik“, aber gleichzeitig „bilderreich“, „wohltuend“ und mit „herzandringender Wärme“ vor. Bei den emotionsgeladenen Veranstaltungen in der Gomaringer Kirche zählte der Ortspfarrer bis zu 1000 BesucherInnen, die auch aus dem Umland kamen: „Der Anblick der übervollen, mit gespannt lauschenden Zuhörern angefüllten Männerempore war überwältigend. Auch die Arbeiterschaft war am Wochenende und Sonntag stark vertreten.“
In vielen Gemeindearchiven unserer Region sind Flugblätter archiviert, mit denen sich die Nazis gezielt an die seit 1930 politisch erweckten evangelischen Christen Württembergs wandten: „Jeder wahre Christ, der für seinen Glauben kämpfen will, wählt … Nationalsozialisten …“40 Dieser Zielgruppe bot die NSDAP im Paragraphen 24 ihres 25-Punkte-Programms das „positive Christentum“ an, nämlich die „Freiheit aller religiöser Bekenntnisse im Staat, … soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen“. Hitler selbst appellierte in seinen Reden bewusst und häufig an die „göttliche Vorsehung“.
Zumindest bei der Gomaringer Evangelisation fiel das „positive Christentum“ auf fruchtbaren Boden. Missionar Lohß bekannte noch im Jahr seiner Gomaringer Missionswoche, 1932: „Wir wollen in Zukunft nicht erst warten, bis wir gerufen werden, sondern der NSDAP und auch dem Stahlhelm unsere Dienste ausdrücklich anbieten.“38 Er stieß in dasselbe Horn wie der Gomaringer Ortspfarrer Otto Hermann Schwarzmaier, der als regionaler Führer der Deutschen Christen im Evangelischen Gemeindeblatt für Gomaringen 1933 veröffentlichte: „Was die Nationalsozialisten im Staate sind, das sollen die Deutschen Christen in der Kirche sein, nämlich Sturmtrupps, die unter den Fahnen Jesu den Kampf aufnehmen gegen die Mächte des Un- und Aberglaubens.“ Die NSDAP erntete offenbar einen großen Teil der vom CSV mobilisierten und christlich eingestellten Wähler*innen im Steinlachtal. Zwischen 1930 und 1932 verloren die bürgerlichen Parteien und unter ihnen vor allem der CSV erdrutschartig von 47 auf 19 Prozent. In umgekehrtem Maße schnellte die NSDAP von sieben auf 34 Prozent empor. In Belsen hatte die Hälfte der Wähler noch 1930 dem CSV zum triumphalen Sieg verholfen, 1932 wanderten sie vermutlich fast komplett zur NSDAP ab. Pfarrer Schwarzmaier triumphierte in der Dezemberausgabe des Evangelischen Gemeindeblatts für Gomaringen 1933: „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen. Jesus ist Sieger!“
Zur Wählerwanderung christlicher Kreise im Steinlachtal und überhaupt zur hiesigen Unterstützung für die NSDAP ist noch Forschung nötig. Ein Anschluss an Akteursgruppen und Lager des Jahres 1933 im Steinlachtal kann ja auch abgrenzend erfolgen. Wer sich einer Wählergruppe von damals nahe fühlt, ihr seinerzeitiges Verhalten aber ablehnt, kann umso genauer hinschauen: Was lief damals wann falsch? Wollen Sie das? Dann werten Sie die Evangelischen Gemeindeblätter, die Pfarrerakten und die Pfarrberichte im Landeskirchlichen Archiv in Stuttgart aus. Manche Pfarrberichte finden sie auch dort als Digitalisat über das Internet. Oder werten Sie die Entnazifizierungsakten im Bestand Wü 13 T 2 des Staatsarchivs Sigmaringen aus. Auch das übrigens bis zu einem gewissen Grad online von zuhause aus. Ich habe 40 Akten von Mössingern identifiziert. Allerdings müssen Sie nach Sigmaringen fahren und Papierakten einsehen, wenn Sie eine Frage umtreibt: Wie viele NS-Akteure rechtfertigten ihre Verstrickungen in den Nationalsozialismus und ihre Taten mit „positivem Christentum“? In Gomaringen trugen die wichtigsten NS-Getreuen dieses Argument geradezu seriell zu ihrer Entlastung vor. Mit den Entnazifizierungsakten gibt es eine weitere Quellengruppe, die tiefere Einblicke auch in das „andere“ Mössingen bieten kann. Allerdings gilt auch beim Studium der Entnazifizierungsakten Vorsicht: In den Akten der politischen Säuberung geht es um Belastung und Entlastung. Darin finden Sie wieder die mindestens zwei erinnerungsgeschichtlichen Mössinger Lager.
5. Identifikationsangebote
Der Mössinger Generalstreik hat sich seit 1945 zum akzeptierten, schließlich sogar begehrten Thema entwickelt. In einem erinnerungskulturellen Prozess, der fast drei Generationen dauerte, fanden immer mehr Menschen positiven Anschluss daran, eigneten ihn sich an. Den Wechsel läutete das Jubiläumsjahr 1983 ein. Spätestens seit 2013 und den theaterpolitischen Massenevents des Theaters Lindenhof ist der positive Anschluss kaum noch strittig. Wenn Sie selbst Ihren erinnerungskulturellen Anschluss an den Mössinger Generalstreik suchen, empfehle ich Ihnen Formen, die historischer Methode und Quellenkritik Anlass, Raum und Zeit geben. In dieser Hinsicht hat sich die Stadt mit Ausstellungen und Vortragsangeboten seit 1983 zum wichtigsten erinnerungskulturellen Akteur entwickelt. Das historisch-wissenschaftliche Herangehen endet, sobald eine Akteursgruppe Deutungshoheit zum Generalstreik beansprucht. Deuten können Sie ja selbst. Deshalb lade ich Sie ein: Eignen Sie sich den Generalstreik an und erfinden Sie ihn für sich, so wie das die Quellen hergeben, deren Kontexte nahelegen und so wie Sie das – danach – für richtig halten.