Von Ute Kaiser
Seit drei Jahren beherrschen die Taliban Afghanistan. Die wirtschaftliche und politische Situation belastet das Leben der Bevölkerung massiv. Das gilt seit der Machtergreifung Mitte August 2021 besonders für Menschen, die gegen das Regime sind. Wer protestiert, „fällt dem Verschwindenlassen zum Opfer, wird willkürlich festgenommen, inhaftiert, gefoltert oder in anderer Weise misshandelt“: Das berichtet die Menschenrechtsorganisation Amnesty international. Viele Oppositionelle fürchten um ihr Leben.
Besonders bedrückend ist die Lage auch für Mädchen und Frauen. Schülerinnen dürfen nach der sechsten Klasse keine weiterführende Schule besuchen, junge Frauen dürfen nicht mehr studieren, nicht arbeiten und nicht allein aus dem Haus gehen.
Chance auf Freiheit und Sicherheit
Das Bundesministerium des Innern (BMI) hat am 17. Oktober 2022 ein spezielles Bundesaufnahmeprogramm (BAP) gestartet. Es war für diejenigen gedacht, die sich gegen die Einschränkung ihrer Rechte wehren. Diesen „besonders Schutzbedürftigen“ sollte, so Innenministerin Nancy Faeser, „ein Stück Hoffnung zurückgegeben und die Chance auf ein Leben in Freiheit, Selbstbestimmung und Sicherheit“ gegeben werden. Rund 1000 besonders gefährdete AfghanInnen sollten pro Monat nach Deutschland einreisen können.
Als Zielgruppen nennt das Ministerium unter anderem afghanische Staatsangehörige in dem Land am Hindukusch, die „sich durch ihren Einsatz für Frauen- und Menschenrechte oder durch ihre Tätigkeit in den Bereichen Justiz, Politik, Medien, Bildung, Kultur, Sport oder Wissenschaft besonders exponiert haben und deshalb individuell gefährdet sind“. Eine zweite Gruppe umfasst unter anderem Menschen, die wegen ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Religion „spezifische Gewalt oder Verfolgung erfahren bzw. erfahren haben und deshalb konkret und individuell gefährdet sind“. Hier kommt es immer auf die besonderen Umstände des Einzelfalls an.
Nur ein Hoffnungsschimmer
Die Erwartungen an dieses humanitäre Programm waren groß. Umso größer ist die Enttäuschung bei Betroffenen in Afghanistan und Hilfsorganisationen in Deutschland. Bisher hätten es nur sechs afghanische JournalistInnen nach Deutschland geschafft, schreibt die Journalisten-Organisation „Reporter ohne Grenzen“. In Afghanistan gilt die Presse nichts. Das Land steht auf der Rangliste der Pressefreiheit auf dem vorletzten Platz von 180 Staaten.
„Reporter ohne Grenzen“ kritisiert: Bei monatlich 1000 Menschen hätten bis Ende Juli dieses Jahres 21.000 besonders schutzbedürftige AfghanInnen in Deutschland aufgenommen werden müssen. Bis 12. Juli seien aber nur 540 tatsächlich eingereist. Amnesty international (AI) schreibt von 581 Einreisen. Eine AI-Expertin sagt: Das Aufnahmeprogramm „war eigentlich ein Hoffnungsschimmer“.
„Move on“: 14 Aufnahme-Zusagen bei 75 Anträgen
Ein Grundsatz im Aufnahmeprogramm: Besonders Schutzbedürftige können nicht selbst einen Antrag auf Aufnahme stellen. Vorschläge dürfen nur sogenannte „meldeberechtigte Stellen“ machen. Eine davon ist die Organisation „Move on“ in Tübingen. Nach deren neuesten Zahlen, von denen das „Schwäbische Tagblatt“ berichtete, hat „Move on“ 75 Anträge gestellt, über die Hälfte für Frauen. Eine Kommission hat 42 Anträge ausgewählt. 14 Menschen haben eine schriftliche Aufnahmezusage bekommen.
Wie mehrere Organisationen beklagen, ist die Ausreise aus Afghanistan nach Pakistan gefährlich und – beispielsweise für Dokumente und Visum – sehr teuer. Familien mussten nach der Aufnahmezusage in Afghanistan all ihren Besitz verkaufen. In Pakistan droht den AfghanInnen, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben, die Abschiebung. Ein weiteres Problem: Es dauert lang, bis die Botschaft ein nur sechs Wochen gültiges Visum ausstellt. Aber bis zur endgültigen Ausreise können mehrere Wochen vergehen.
„Deutschland hat eine besondere Verantwortung“
Die Chancen für besonders Schutzbedürftige, nach Deutschland einzureisen, gehen künftig immer mehr gegen null. Dem Haushaltsentwurf der Bundesregierung für das Jahr 2025 ist zu entnehmen: Das Geld für das Bundesaufnahmeprogramm soll um 90 Prozent gekürzt werden. Ab Herbst wird der Bundestag über diesen Haushaltsentwurf debattieren. Schon jetzt protestieren immer mehr humanitäre Organisation gegen die Pläne. Unter anderem Medico international ruft dazu auf, das Bundesaufnahmeprogramm fortzusetzen, zu beschleunigen und auszuweiten. Eine Begründung: Deutschland habe eine „besondere Verantwortung“ wegen seiner Beteiligung an dem zwei Jahrzehnte dauernden Militäreinsatz in Afghanistan.
Ursprünglich hatte die Bundesregierung gleich nach der Machtübernahme der Taliban 45.000 AfghanInnen über weitere Aufnahmeprogramme Schutz in Deutschland in Aussicht gestellt. Davon sind bis April 2024 mehr als 33.200 AfghanInnen in Deutschland eingereist: 20.300 Ortskräfte und ihre Familienangehörigen sowie über 12.900 besonders Gefährdete mit ihren Angehörigen. Mehr dazu unter:
https://www.bundesaufnahmeprogrammafghanistan.de/bundesaufnahme-de
Speziell zum Bundesaufnahmeprogramm:
https://www.medico.de/bundesaufnahmeprogramm-afghanistan-retten-19604
Mit vielen Informationen zur Situation von Mädchen und Frauen:
https://www.amnesty.de/pressemitteilung-deutschland-bundesaufnahmeprogramm-afghanistan-bap-nicht-einstellen
Speziell zur Situation von JournalistInnen:
https://www.reporter-ohne-grenzen.de/pressemitteilungen/meldung/bundesregierung-laesst-afghanische-journalisten-im-stich
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Flughafen Stuttgart. Foto: tünews INTERNATIONAL / Mostafa Elyasian.
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