Wer sind die Menschen hinter den Namen? Was ist Ihnen widerfahren? Wie sah die strukturelle Verfolgung und Ausgrenzung in Tübingen aus?
Diesen und weiteren Fragen stellten sich die beiden Jugendguides Melisa und Anna bei Ihrem öffentlichen Stadtgang am 27. August in der Tübinger Innenstadt.
Beginnend vor der Stiftskirche eröffnete Anna dem Publikum mit Landrat Joachim Walter die erste Station der strukturellen Verfolgung und anschließender Deportation: die frühere Polizeistelle in der Münzgasse 13. Was heute ein Haus mit einem Projekt der Selbstverwaltung darstellt, war zu Zeiten des Nationalsozialismus die Polizeidirektion in Tübingen. Von hier aus wurden die in Stuttgart erstellten Listen für die Deportation jüdischer Mitbürger:innen für den Landkreis Tübingen vollzogen. Die Deportation führte zuerst in ein Sammellager am Stuttgarter Killesberg, von dort aus ging es für die Menschen weiter in Ghettos oder Konzentrationslager. Anna war es aber auch wichtig zu verdeutlichen, dass dies nur die Endstufe der Ausgrenzung darstellte: „Bereits vorher gab es direkt hier im Tübinger Freibad ein Schild, das Jüdinnen und Juden den Eintritt verwehrte. […] Oder es gab das Verbot Haustiere zu halten, was vielleicht erstmal nicht weh tat, aber trotzdem einen Eingriff in das Leben der Betroffenen bedeutete.“ Anschließend präsentierte sie ihre Quelle: eine „Transportliste der abzuschiebenden Juden der Stadt Tübingen“ vom 20. August 1942. Gelistet werden die Namen der jüdischen Mitbürger:innen, ihr Wohnsitz, ihre Identifikationsnummer – ein weiteres Zeichen der Entmenschlichung – und Bemerkungen zum Vermögen. Auch wer nicht transportiert werden kann, wird vermerkt: „Die ebenfalls zur Abschiebung vorgesehene verw[itwete] Klara Wallensteiner […] hat am 19.8.1942 Selbstmord verübt.“ Unterzeichnet wurde das Dokument vom damaligen Kriminalobersekretär Christian Wendnagel, „ein klassischer Schreibtischtäter“, wie Anna verlauten ließ.
Nach der Auseinandersetzung mit den schleichenden Eskalationsstufen und vor allem auch dem Einblick in die Täterprofile, wanderte die Gruppe weiter zur nächsten Station: die Stolpersteine am Holzmarkt. Hier präsentierte Melisa gemeinsam mit Anna nun die Geschichte der Familien Schäfer und Oppenheim, die gemeinsam das frühere Bekleidungsgeschäft Degginger führten – in dem heute der New Yorker seine Kleidung verkauft. Der Boykott jüdischer Geschäfte, der generelle Prozess der Arisierung und seine Opfer, sowie die verschiedenen Formen von Umgang mit Erinnerung heute wurden hier durch die Jugendguides vermittelt, aber auch mit dem Publikum offen diskutiert. Vor allem der Aspekt der Mühen und Hürden langwieriger Entschädigungs- und Restitutionsprozesse bis heute wurden im Publikum thematisiert. Wie lang ein solcher Prozess dauern kann, verdeutlicht nicht zuletzt auch die aktuelle Debatte um das koloniale Erbe.
Zum Abschluss zeigte Melisa noch ein Bild herum: „So sah das Gebäude früher aus, als es noch das Modehaus Degginger war.“
Die letzte Station der Führung befand sich nur ein paar Minuten weiter: in der Gartenstraße, die parallel zum Neckar verläuft und viele Spuren der Zeit enthält, betrachtet man die Jugendherberge, früher ein HJ-Heim, oder aber den Synagogenplatz, ein Zeugnis der Reichskristallnacht. An diesem Dienstag jedoch befasste sich Melisa vor allem mit einer Spur der Gartenstraße: das frühere Wohnhaus von Kurt Gerstein. Der SS-Obersturmführer und gleichzeitige Whistleblower der Verbrechen durch die Nationalsozialisten in den Vernichtungslagern versinnbildlicht die Schwierigkeit des Schubladendenkens in Täter- und Widerstandskategorien. Melisa zitierte aus dem Gerstein-Bericht: „Mütter mit Kindern an der Brust, kleine, nackte Kinder, Erwachsene, Männer und Frauen, alle nackt – sie zögern – aber sie treten in die Todeskammern, von den anderen hinter ihnen vorgetrieben oder von den Lederpeitschen der SS getrieben. […] Viele Menschen beten. Ich bete mit ihnen, ich drücke mich in eine Ecke und schreie laut zu meinem und ihrem Gott. Wie gerne wäre ich mit ihnen in die Kammern gegangen, wie gern wäre ich ihren Tod mitgestorben.“
Sobald sie fertig war vorzulesen, folgte keine Stille. Ganz im Gegenteil: viele aus dem Publikum haben Fragen. Melisa und Anna hatten ihr Ziel erreicht: nicht die Beantwortung aller Fragen, sondern der Anstoß einer Diskussion um den heutigen Umgang mit Fragen von Schuld, Erinnerung und Versöhnung. „Dass der Austausch am Leben bleibt, der Diskurs, das ist das Wichtige“, schließt Anna.