Zum Tag der ukrainischen Sprache: Von ihren Ursprüngen bis heute

Von Yana Rudenko
Am 27. Oktober wird in der Ukraine der Tag der ukrainischen Schrift und Sprache begangen. Zum zweiten Mal feiern die UkrainerInnen an diesem Datum – bis 2023 wurde der 1997 eingeführte Feiertag am 9. November begangen. Da dieser Feiertag mit dem Gedenktag des heiligen Nestor, eines Chronisten im Kyjiwer Kloster, verbunden ist, fällt er seit der Umstellung des Kirchenkalenders in der Ukraine auf den Neujulianischen Kalender im vergangenen Jahr auf den 27. Oktober (siehe tun23120507).

Sprachgruppe, Ursprünge und das kyrillische Alphabet
Die slawischen Sprachen werden in drei Untergruppen eingeteilt: West-, Ost- und Südslawisch, die zusammen mehr als 20 Sprachen umfassen. Die ukrainische Sprache gehört zur ostslawischen Gruppe. Sie gehören zur indoeuropäischen Familie mit etwa 45 Millionen SprecherInnen, von denen die meisten in der Ukraine leben. Ukrainisch ist nach der Zahl der Sprecher die zweit- oder drittgrößte slawische Sprache (nach Russisch und möglicherweise Polnisch) und gehört zu den am meisten gesprochenen Sprachen der Welt (Platz 27-28). Was den Wortschatz anbelangt, so ist die dem Ukrainischen am nächsten stehende Sprache Weißrussisch (84 Prozent des gemeinsamen Wortschatzes), gefolgt von Polnisch (70 Prozent des gemeinsamen Wortschatzes), Slowakisch (68 Prozent des gemeinsamen Wortschatzes) und Russisch (62 Prozent des gemeinsamen Wortschatzes). Nach Angaben der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine umfasst die moderne ukrainische Sprache etwa 256.000 Wörter.
Die populärste Theorie besagt, dass alle slawischen Sprachen wahrscheinlich aus einer hypothetischen Ursprache zwischen dem 3. und 1. Jahrhundert v. Chr. entstanden sind. Da jedoch keine schriftlichen Zeugnisse des Protoslawischen erhalten geblieben sind, wurde die Sprache durch den Vergleich authentischer slawischer und anderer indoeuropäischer Sprachen rekonstruiert. Die erste Erwähnung ukrainischer Wörter stammt aus dem Jahr 448, als der byzantinische Historiker Priscus von Pannia bei einem Besuch auf dem Gebiet der heutigen Ukraine die ukrainischen Wörter „med“ (übersetzt: Honig) und „strava“ (übersetzt: Gericht) in sein Notizbuch eintrug.
Die ukrainische Sprache verwendet das kyrillische Alphabet, ein Schriftsystem, das in Osteuropa, Nord- und Mitteleurasien gebräuchlich ist. Es ist eines der beiden Alphabete der altkirchenslawischen Sprache und die Grundlage für die Alphabete zahlreicher slawischer und Dutzende anderer Sprachen. Es basiert auf dem frühen kyrillischen Alphabet, das im 9. Jahrhundert im ersten bulgarischen Königreich entwickelt wurde. Insgesamt gibt es 63 Sprachen mit kyrillischen Alphabeten. Am 1. Januar 2007, nach dem Beitritt Bulgariens zur Europäischen Union, wurde das kyrillische Alphabet zum dritten offiziellen Alphabet der EU, nach Latein und Griechisch.

Der Chronist Nestor und die Kyjiwer Rus
Der Chronist Nestor war Hagiograph und Anhänger der Begründer der slawischen Schriftsprache, Kyrill und Method (ca. 1056-1114 n. Chr.). Nestor gilt als der Begründer der ukrainischen Schriftsprache. Am bekanntesten ist er für seine Chronik „Die Geschichte vergangener Jahre“, eines der ältesten literarischen Denkmäler in der Geschichte der Ukraine und die älteste große Chronik der ukrainischen Sprache. Nestor hat darin die Merkmale der ukrainischen Sprache aufgezeichnet. Es ist auch das erste Dokument in der Kyjiwer Rus, das die Geschichte des Staates vor dem breiten Hintergrund des Weltgeschehens darstellt. Die Kyjiwer Rus war ein osteuropäischer feudal-monarchischer Staat mit der Hauptstadt Kyjiw, der im 9. bis 13. Jahrhundert existierte. Sein Territorium umfasste hauptsächlich die Gebiete der heutigen Ukraine, Weißrusslands, Moldawiens und Polens sowie einige Teile des heutigen Rumäniens, Russlands und der Slowakei. Die Chronik erzählt die Geschichte der Ostslawen und der Fürstenmacht, die Etablierung des Christentums in der Kyjiwer Rus, enthält Geschichten über die Entstehung der slawischen Schrift und spiegelt die Stimmungen der verschiedenen Gesellschaftsschichten wider. Die Aufzeichnungen werden Jahr für Jahr präsentiert. Die Zusammenstellung verwendet Legenden, Erzählungen und Romane. Sie ist in einer Sprache geschrieben, die der lebendigen, umgangssprachlichen Mundart nahekommt und eine Schicht kirchenslawischer Elemente enthält.

Verbot des Ukrainischen im Moskauer Königreich und im Russischen Reich
Nach dem Niedergang des Kyjiwer Staates und des Reiches der Rus hatte die ukrainische Sprache schwere Zeiten zu überstehen. Im Moskauer Staat und im Russischen Reich wurde sie im Laufe der Jahrhunderte massiv unterdrückt, bis hin zum Verbot des freien Gebrauchs der ukrainischen Sprache. So wurde 1718 auf Befehl Peters des Großen die Bibliothek der Kyjiwer Höhlenkloster verbrannt, und 1720 wurden durch einen Erlass des Senats ukrainische Texte aus den Kirchenbüchern entfernt. Die strengsten Beschränkungen für den Gebrauch der ukrainischen Sprache wurden jedoch durch das Valuev-Rundschreiben von 1863 auferlegt, das den Druck religiöser, erzieherischer und ausbildender Bücher in ukrainischer Sprache verbot, aber die Veröffentlichung von Belletristik erlaubte, obwohl die Zensur den Druck dieser Bücher einschränkte. Das Emser Dekret von 1876 führte zu einer noch stärkeren Einschränkung der ukrainischen Sprache. Die Sprache wurde in vielen Bereichen des Lebens verboten, darunter in der Kirche, in der Musik, im Theater und im Buchwesen. Es war auch verboten, in ukrainischer Sprache gedruckte Bücher in das Reichsgebiet einzuführen. Der Gebrauch der ukrainischen Sprache war nur auf den Inlandsgebrauch beschränkt. Darüber hinaus wurden verschiedene Aufführungen und öffentliche Lesungen im „kleinrussischen Dialekt“ – wie die russische Propaganda die ukrainische Sprache bis heute oft bezeichnet – verboten.

Kotliarewskijs „Eneyida“ und Schewtschenkos „Vermächtnis“
Dennoch wurden einige Werke in ukrainischer Sprache veröffentlicht – mit dem Vermerk „in kleinrussischer Sprache“. Eines davon ist das Gedicht Eneyida, das erste große Werk der ukrainischen Literatur, das in ukrainischer Umgangssprache verfasst wurde. Das Gedicht markiert den Beginn der modernen ukrainischen Literatur. Die ersten drei Teile des Gedichts wurden 1798 in St. Petersburg veröffentlicht, ohne dass der Autor, Iwan Kotliarewskij, davon wusste.
Das Gedicht entstand zur Zeit des Aufkommens der Romantik und des Nationalismus in Europa, vor dem Hintergrund der Sehnsucht der ukrainischen Elite nach dem ukrainischen Kosakenstaat, der 1775 bis 1786 von Russland liquidiert wurde. Eneyida wurde erst nach Kotliarewskijs Tod 1842 vollständig veröffentlicht. Dieses Werk ist eine erstklassige Quelle für ukrainische Studien, ukrainisches Leben und ukrainische Kultur des achtzehnten Jahrhunderts.
Trotz aller Schikanen versuchten viele ukrainische Schriftsteller in dieser Zeit, ihre Arbeit fortzusetzen. Sie litten deshalb unter vielen Konsequenzen wie Repression, Verhaftung, Exil und Gefangenschaft. Eines der bekanntesten Beispiele ist Taras Schewtschenko (1814-1861), ein ukrainischer Dichter, Prosaist, Denker, Maler, Graveur und Ethnograf. Schewtschenkos literarisches Erbe gilt als Grundlage der modernen ukrainischen Literatur und zum großen Teil auch der ukrainischen Literatursprache. Von seinen 47 Lebensjahren verbrachte er 34 Jahre in Gefangenschaft: 24 Jahre unter dem Joch der Leibeigenschaft und mehr als 10 Jahre in Verbannung unter härtesten Bedingungen. Taras Schewtschenkos Vermächtniswurde das meistübersetzte Buch aus dem Ukrainischen und eines der fünf meistübersetzten Bücher der Welt (preply | most translated books).

Die ukrainische Sprache in der Sowjetunion
Die Folgen der Sprachpolitik des Russischen Reiches in Form der Verdrängung des Ukrainischen aus allen Lebensbereichen waren in der Ostukraine am deutlichsten zu spüren – im Gegensatz zu den westukrainischen Gebieten, die zuvor Teil des österreichisch-ungarischen Reiches waren und in denen es Lockerungen in Bezug auf den Gebrauch der ukrainischen Sprache gab. In den 70 Jahren der Sowjetära war das Ukrainische theoretisch und de jure die wichtigste lokale Sprache in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. In der Praxis musste das Ukrainische jedoch mit dem Russischen konkurrieren, das durch die Politik der sowjetischen Führung privilegiert war. Im Laufe der Zeit dominierte die russische Sprache, insbesondere in den Städten. Trotz alledem betrachteten laut der Volkszählung der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik von 1989 64,7 Prozent der Einwohner der Republik Ukrainisch als ihre Muttersprache, nur 32,8 Prozent Russisch.

Sprache heute und Zweisprachigkeit in der Ukraine
Die Folgen dieser jahrhundertelangen Sprachenpolitik sind auch heute noch zu spüren. In der Ukraine verwenden viele Menschen beide Sprachen: Ukrainisch und Russisch. Darüber hinaus gibt es ein weit verbreitetes soziolinguistisches Phänomen namens „surzhyk“, eine Mischung aus Russisch und Ukrainisch. Ukrainisch ist im Zentrum, Westen und Nordosten der Ukraine vorherrschend, während Russisch in den Industriezentren der Ost- und Südukraine sowie auf der Krim mehr verwendet wird. Laut einer Studie der Financial Times vom April 2017 verliert die russische Sprache seit 20 Jahren stetig an Popularität unter den Ukrainern. Im Jahr 1994 lag die Zahl der russischsprachigen ukrainischen Bürger bei 33,9 Prozent, im Jahr 2016 bei 24,4 Prozent. Ähnlich ist die Situation in Kasachstan und Georgien. In Weißrussland hingegen ist die Lage anders: Von fast 50 Prozent im Jahr 1994 stieg die Zahl der russischsprachigen Bürger auf 71 Prozent im Jahr 2016.
Obwohl in vielen anderen postsowjetischen Ländern Russisch immer noch von der Mehrheit der Bevölkerung gesprochen wird, nutzt der Kreml die Verbreitung des Russischen in der Ukraine als eine der Rechtfertigungen für eine militärische Aggression – nach dem Ausbruch des Krieges im Jahr 2014 behauptete Moskau wiederholt, dass es angeblich die Interessen und Rechte der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine schützt. Daher betrachten immer mehr UkrainerInnen die Wiederbelebung der ukrainischen Sprache als eine Frage der nationalen Sicherheit und Identität und sprechen von der Bedeutung der „Sprachgrenzen“. Seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Jahr 2022 ist die Verbreitung der russischen Sprache in der Ukraine rückläufig, und die Popularität der Idee, den Status der russischen Sprache aufzuwerten, hat ihren niedrigsten Stand seit der Unabhängigkeit der Ukraine erreicht.

tun22102206

www.tuenews.de

Beflaggung vor dem Tübinger Regierungspräsidium. Foto: tünews INTERNATIONAL / Martin Klaus.

001205

 

 

 

 

 

TÜNEWS INTERNATIONAL

Related posts

Contact Us

Magazine Html