„Hier trägst Du mit. Ein Erbkranker kostet bis zur Erreichung des 60. Lebensjahres im Durchschnitt 50.000 RM“, schreit den Jugendguides ein Propagandaplakat entgegen. Abgebildet ist ein großer Mann mit hellem Haar, der zwei Figuren auf seinen Schultern trägt – die eine mit einem Affenkopf gänzlich entmenschlicht. Dieses menschenverachtende Bild der nationalsozialistischen Ideologie von psychisch Kranken und geistig behinderten Menschen schockierte die Jugendguides bei einem Workshop am 17. November 2024 im Dokumentationszentrum der Gedenkstätte Grafeneck. Nach dem Workshop vermittelten zehn Jugendguides ihre Erkenntnisse in einer öffentlichen Führung an 15 Interessierte.
Simeon und Betty gaben am Schloss einen Überblick über dessen Geschichte seit seiner Errichtung als Jagdschloss der Herzöge von Württemberg 1560. Sie befassten sich insbesondere mit dem Behindertenheim, das die evangelischen Samariterstiftung 1928 darin einrichtete. 1939 wird das gesamte Gelände beschlagnahmt – für „Zwecke des Reichs“. Es wurde zur Euthanasie-Mordanstalt. Im Schloss wohnten 1940 deren Täter:innen. „Weiß jemand, warum es hier auch ein Standesamt gab?“, fragte Simeon, „Für die Ausstellung der Todesscheine, genau.“ Er berichtete, wie dieses Standesamt Todesdaten, Todesursachen und Todesorte fälschte, um den Massenmord in Grafeneck zu vertuschen. Heute gehört das Gelände wieder dem Samariterstift, die in neuen Gebäuden Wohngruppen betreibt.
Im Dokumentationszentrum der Gedenkstätte Grafeneck ließ Jella der Gruppe Zeit, die dortige Ausstellung auf sich wirken zu lassen, darunter auch das Propagandaposter der NS. Ihr ging es dann um den erinnerungskulturellen Umgang mit diesen Verbrechen von der Nachkriegszeit bis heute. Figuren des Kunstprojekts “Grafeneck 10654” des Künstlers Jochen Meyder stachen durch ihre Individualität jedes Opfers heraus. Von dem Projekt blieb ein leeres Regal. Jella lud ein: „Auch Sie können gerne einen Stein bemalen und mit ihm das leere Regal mit Erinnerungen wiederbefüllen“.
Rabea, Swantje und Anne erzählten an der Station „Landwirtschaft“ unter anderem vom dortigen Bauernhof und den Roten Postbussen, von denen zwei bis drei täglich Euthanasiemordopfer aus Psychiatrischen Einrichtungen nach Grafeneck deportierten. Anne überlegte, was Bewohner*innen umliegender Dörfer wohl wahrgenommen hatten: „Das war dann doch zu auffällig, wenn so viele Postbusse jeden Tag kamen. So viel Post kann ja keiner bekommen.“ Sie gab ein fotokopiertes Formular von 1940 herum. Die darin aufgelisteten Merkmale machten deutlich, nach welchen Faktoren die Täter:innen die Mordopfer selektierten. So spielte zum Beispiel die „Rasse“ eine Rolle, aber auch ob man regelmäßigen Besuch bekommen hatte, oder als arbeitsfähig galt. Vor allem, wer nach NS-Kategorien als „unnütz“ galt, sollte ermordet werden.
In Grafeneck wurde in einem bereits existierenden Schuppen eine Gaskammer eingerichtet. Den Schuppen ließ die Samariterstiftung in den 1960er Jahren abreißen. Maja und Anda zeigten das Stück Wiese, auf dem der Schuppen samt Gaskammer früher stand. Heute zeugen von dem 10.000-fachen Mordort nur noch ein kleiner Stein und eine Schrifttafel. Trotz Nieselregen und Kälte hören die Besucher*innen den Jugendguides zu.
Melisa und Frizzi führten die Gruppe dann zur Gedenkanlage neben dem Friedhof, zu Kapelle und Alphabetgarten. Mit Taschenlampen wird der einsetzenden Dunkelheit getrotzt und das Urnengrab beleuchet. Melina zitiert: „Zum Gedenken an die Opfer der Unmenschlichkeit. Grafeneck 1940.“