Wo die Landwirtschaft erfunden wurde und wie sie nach Europa kam

von Youssef Kanjou und Michael Seifert
Wir wissen nicht, warum und wann die Menschen beschlossen, ihr Leben als Nomaden aufzugeben und an einem festen Ort zu leben und dort statt Zelten Lehmhäuser zu errichten. Daraus entstanden dann die ersten Dörfer. Es war sicherlich ein Jahrtausende dauernder Prozess, bis die Menschen dieses entwickelte Stadium erreicht hatten. Sie mussten dafür zusammenarbeiten und Erfahrungen austauschen, um ihr kulturelles und technologisches Knowhow über viele Generationen hinweg weiterzuentwickeln. Wir sprechen hier von einer Epoche, die um das 10. Jahrtausend v. Chr. in Anatolien und im Gebiet des „Fruchtbaren Halbmonds“ begann. Die Archäologen bezeichnen diesen Prozess als „neolithische Revolution“ in der Jungsteinzeit, lange bevor man Werkzeuge aus Metall herstellen konnte.

Anatolien und Fruchtbarer Halbmond: Die ersten Dörfer
Es war eine anscheinend begünstigte Zeit – aufgrund der klimatischen Bedingungen und aufgrund von Zusammenarbeit und des Fehlens von Konflikten. Archäologische Ausgrabungen haben ein klares Bild vom Leben der Menschen in diesen Dörfern geliefert, was den religiösen Glauben, die Architektur, das Wirtschaftsleben, die Bestattung der Toten und vor allem die Anfänge der Landwirtschaft und der Viehzucht betrifft. Das sind die wichtigsten Grundlagen, auf denen spätere Zivilisationen aufgebaut haben.
Aber wie haben die Archäologen festgestellt, wann und wo die Landwirtschaft zuerst aufkam? In diesen ersten Dörfern entdeckten die Archäologen Werkzeuge, die in der Landwirtschaft verwendet wurden, und Werkzeuge, mit denen man Getreide (Zuchtformen von vorher wildem Weizen) mahlen und zubereiten konnte, um Speisen daraus zu machen. Auch fand man Strukturen von Lagerhäusern für das Getreide. Damit wurde der Beweis erbracht, dass dort erstmals Landwirtschaft betrieben wurde. Mit Hilfe der Datierung über Radiokohlenstoffanalysen ließ sich der Beginn des Ackerbaus auf das 9. Jahrtausend v. Chr. bestimmen.

Entstehung von Zentren
Die wichtigsten dieser Siedlungen sind Göbekli Tepe, Tell al-Muraybet und Catalhöyük. Hinzu kommen Dutzende weiterer kleinerer Siedlungen. Die Archäologen betrachten daher die gesamte Region vom Euphrat bis nach Anatolien als erste Keimzelle des Ackerbaus.
Der Fundort Göbekli (10. bis 9. Jahrtausend v. Chr.) liegt in der Zentraltürkei und zeichnet sich durch das Vorhandensein kreisförmiger architektonischer Strukturen ohne Wohnzwecke mit einem Durchmesser von mehr als 10 m aus, die aus einer Gruppe großer, teilweise bis zu 12 m hoher Monumente in Form des Buchstabens T bestehen. Es gibt keine ähnlichen Funde aus der gleichen oder einer späteren Zeit. Die meisten Denkmäler sind mit Tierfiguren verziert, die die wichtigsten Tiere der Epoche darstellen, während Menschen nicht direkt abgebildet sind. Die Stätte scheint in dieser Zeit ein wichtiges religiöses Zentrum gewesen zu sein, und die Archäologen vermuten, dass die Menschen von weit herkamen, um an diesem Ort religiöse oder soziale Rituale durchzuführen.
Tell al-Muraybet (10,200–8,000 v. Chr.) war eine Siedlung am linken Ufer des Euphrat, ist aber nach dem Bau des Euphrat-Staudamms in Syrien überflutet worden. Bei den archäologischen Ausgrabungen wurden kreisförmige Häuser gefunden, die auf eine dauerhafte Besiedlung hindeuten. Materielle Zeugnisse für die Anfänge der Landwirtschaft sind insbesondere die Steinwerkzeuge, die bei der Ernte und beim Mahlen verwendet wurden, polierte Steinäxte und vor allem aus Züchtung hervorgegangene Weizenkörner. Abnutzung an Gelenken von menschlichen Skeletten sind als Folge landwirtschaftlicher Arbeit zu sehen, da es sie früher, als die Menschen noch jagten und sammelten, nicht gab. Darüber hinaus wurden in Al Muraibet weibliche Figuren gefunden, die als Beweis für die Verehrung einer Muttergöttin gelten können.

Von der Fundstätte von Catalhöyük (7500-5700 v. Chr.) in der heutigen Zentraltürkei gibt es eindeutige archäologische Beweise für das fortgeschrittene neolithische Leben in der Region in architektonischer, religiöser und kultureller Hinsicht. Hier wurden zahlreiche rechteckige, aneinandergebaute Lehmziegelhäuser entdeckt, zwischen denen es keine Straßen gab und die über die Dächer der Häuser zugänglich waren. In den Häusern wurden auch zahlreiche Wandmalereien gefunden, die das tägliche Leben, Jagdszenen und religiöse Rituale darstellen. Die Bewohner bestatteten auch ihre Toten in ihren Häusern unter den Fußböden und legten ihnen Wertgegenstände wie Schmuck und Werkzeuge bei. Offenbar gab es keine eindeutigen sozialen oder politischen Klassen, sondern eine weitgehend egalitäre Gesellschaft, denn die Häuser waren in Größe und Gestaltung ähnlich. Die Architektur weist insgesamt auf einen Lebensstil hin, der von kollektiver Zusammenarbeit geprägt ist.
Dass die Menschen in der Lage waren, dauerhaft Landwirtschaft zu betreiben und über einen langen Zeitraum sesshaft in der Region zu leben, führte zu einem erheblichen Anstieg der Bevölkerung. Dies belastete die Umwelt und führte zu einer Verknappung der natürlichen Ressourcen. Schließlich veränderte sich auch das Klima in Richtung höherer Temperaturen. Diese und andere Gründe, die wir noch nicht kennen, begünstigten die Migration von Menschen aus der Region Anatolien nach Europa.

Neolithische Kunst an den Wänden eines Hauses in Çatalhöyük in der Zentraltürkei. ‎Wahrscheinlich Jagddarstellungen. (Bild von einer Nachbildung des Originals). Foto: ‎tuenews INTERNATIONAL / Youssef Kanjou.

Migration brachte die Landwirtschaft nach Europa
Die Landwirtschaft hatte sich in Anatolien über Jahrtausende hinweg langsam entwickelt. In Europa dagegen setzte sich die Landwirtschaft schlagartig innerhalb weniger Jahrhunderte durch – das ist durch Funde an zahlreichen archäologischen Stätten belegt. Und das widerlegt auch eine ältere Theorie von Archäologen: Danach seien die neuen Technologien der Landwirtschaft langsam durch ständigen Kulturaustausch immer weiter in den europäischen Raum weitergetragen worden.
Genetische Analysen an den Knochen von Hunderten von Menschen, die in dieser Zeit als Ackerbauern in Europa gelebt haben, zeigen eindeutig, dass eine massive Migration von Menschen aus Anatolien die neuen Technologien und die neue Lebensweise nach Europa gebracht hat. Dies wurde zum ersten Mal 2014 von Tübinger Wissenschaftlern am Genom einer Frau gezeigt, die vor 7000 Jahren im Stuttgarter Raum gelebt hatte. Ihr Genom entspricht dem der anatolischen Ackerbauern und unterscheidet sich deutlich von dem der Jäger und Sammler, die bis zur anatolischen Einwanderung allein im europäischen Raum gelebt hatten. Heutige Menschen in Mitteleuropa haben immer noch etwa 40 Prozent ihres Genmaterials von diesen Anatoliern. Der Weg, den die Einwanderer genommen haben, lässt sich nachzeichnen: Sie kamen aus dem Gebiet der heutigen Türkei zunächst in den Balkan (es gab also schon vor etwa 8.000 Jahren eine „Balkanroute“!) Von dort folgten sie entweder dem Lauf der Donau oder den Küsten des Mittelmeers, um schließlich nach Mitteleuropa und in den Norden zu gelangen.

Rekonstruktion einer jungsteinzeitlichen Pfahlbausiedlung in Freilichtmuseum am ‎Ohridsee. Vor dem gegenüberliegenden Ufer wurden die Holzfundamente des ältesten ‎Dorfs Europas im See entdeckt. Foto: tuenews INTERNATIONAL / Michael Seifert.

Gerade entdeckt: „Wiege der Landwirtschaft in Europa“
Die bisher älteste Siedlung in Europa haben Unterwasser-Archäologen der Universität Bern (Schweiz) 2023 am Ohrid-See in Albanien entdeckt. Es handelt sich um eine Pfahlbausiedlung, die vor fast 8.000 Jahren auf Holzpfählen im See errichtet wurde und damit gut geschützt war. Der fehlende Sauerstoff unter Wasser hat das Holz über Tausende von Jahren erhalten, an Land hätten Mikroorganismen es längst zersetzt. Dieser Ort kann daher als „Wiege der Landwirtschaft in Europa“ bezeichnet werden. Ähnliche Seesiedlungen entstehen in späterer Zeit an vielen Stellen in Mitteleuropa, unter anderem auch am Feder- und Bodensee in unserer Region.
Während die Migrantengruppen immer weiter vorrückten, zogen sich die zahlenmäßig unterlegenen einheimischen Nomaden in bergige Gebiete und nach Norden zurück. Die beiden Bevölkerungsgruppen lebten wie in Parallelgesellschaften, zu Vermischungen kam es nach den Erkenntnissen der Genetiker nur selten. Dass die Nomaden die scheinbar erfolgreichere landwirtschaftliche Kultur nicht übernommen haben, könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Bauern den ganzen Tag arbeiten mussten, um die Ernährung zu sichern, die Nomaden dagegen mehr Freizeit hatten.

Neolithische Äxte aus Stein aus dem Norden Deutschlands. Landesmuseum ‎Niedersachsen Hannover. Foto: tuenews INTERNATIONAL / Michael Seifert.

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Rechteckige zusammenhängende Häuser aus der Jungsteinzeit, die in Çatalhöyük in ‎der Zentraltürkei ausgegraben wurden. Foto: tuenews INTERNATIONAL / Youssef Kanjou.

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