Atlanta – eine Stadt unter Belagerung

Von Will Thomas

Der Autor ist ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Redaktion von tünews INTERNATIONAL. Nach einem Stipendienaufenthalt in Tübingen und Berlin kehrte er im April 2020 in die USA zurück. Dort erlebt er derzeit ein Land in Aufruhr. Wir haben ihn gebeten, seine persönlichen Erlebnisse zu schildern. Begriffe in seinem Beitrag, die sehr stark durch US-amerikanische Tradition geprägt sind, haben wir in Anführungszeichen gesetzt und teilweise in englischer Sprache beibehalten.

 

In US-amerikanischen Städten toben Schlachten. Im vorangegangenen Artikel habe ich erklärt, warum das passiert. Jetzt berichte ich von der Protestbewegung in den USA. In Hunderten von Städten fanden Demos statt. In mehreren Städten entwickelten sich Krawalle, komplett mit autonomen Zonen.

In Atlanta (Bundesstaat Georgia) begannen die Proteste am Donnerstag, 28. Mai. Am ersten Tag zunächst klein, mit weniger als 50 Menschen. Im Mai gab es schon andere Demos wegen des Todes von Ahmaud Arbery, eines „Black man“, den zwei „white men“ aus rassistischen Gründen Ende Februar beim Joggen getötet hatten. Das geschah in der Stadt Savannah im Bundesstaat Georgia.

Am Freitag, 29. Mai, kam die große Eskalation. Nach einem friedlichen Marsch blockierte die Polizei die Straße vor dem CNN-Zentrum, in dem sich auch ein Polizeirevier befindet. Nach ein paar Stunden Auge in Auge mit der Polizeikette sprühten einige Menschen aus der Menge das Gebäude an und warfen Gegenstände gegen die Glasfenster. Die Polizei reagierte, indem Polizisten gewaltsam nach vorne drückten, Gummigeschosse und Tränengas abschossen und jeden festnahmen, den sie ergreifen konnten. Die Menge wich zurück, dann wurde ein Polizeiauto in Brand gesetzt und es kam zu Krawallen.

In den nächsten Stunden brach in Downtown Atlanta Chaos aus. Im Geschäftsviertel wurden Fenster eingeschlagen, Wände angesprayt und Geschäfte geplündert. Soweit ich weiß, haben die Randalierer niemanden verletzt. Die Polizei übernahm spät in der Nacht die Kontrolle. Das letzte Mal passierte so etwas in Atlanta nach dem Freispruch der Polizisten, die Rodney King, einen “Black man” in Kalifornien, geschlagen und getreten hatten.

Am nächsten Tag, Samstag, 30. Mai, erließ die Stadt eine Ausgangssperre ab 20 Uhr, um die Demos zu verhindern. Die Nationalgarde, die US-Militärreserve, wurde einberufen. Diese Ausgangssperre wurde nicht gleichmäßig durchgesetzt. Kneipen und Restaurants hatten immer noch offen und es waren immer noch Menschen unterwegs. Die Ausgangssperre wurde nur an den Orten der Proteste durchgesetzt.

Am Dienstag, 2. Juni, nahmen meine Freundin und ich an den friedlichen Protesten teil. Wir marschierten und schwenkten unsere Plakate. Der Marsch endete fast am selben Ort wie am Freitag. Dort bildete die Polizei eine weitere Kette. Kurz vor 20 Uhr wurden reguläre Officers durch Officers in Kampfausrüstung ersetzt. Demonstranten in ähnlicher Ausrüstung wie Protestierende in Hongkong kamen, um sich mit den Polizisten anzulegen. Für uns war es Zeit zu gehen.

Wir verließen den Hauptbereich um 20.55 Uhr, um zu unserem Fahrzeug zurückzukehren. In den Seitenstraßen trafen wir eine Reihe von NationalgardistInnen, die den Weg versperrten. Wir erklärten, dass wir nach Hause wollten, aber wurden aufgefordert, einen anderen Weg zu gehen. Das wiederholte sich in einer anderen Seitenstraße. Wir bemerkten, dass alle Wege blockiert waren. Ich hatte nur genug Zeit, meine Mutter anzurufen, bevor die Polizei uns (und viele andere) festnahm.

Wir wurden durchsucht und warteten eine Stunde, bevor wir in einem Polizeiwagen weggebracht wurden. Die PolizistInnen zogen uns Mund-und-Nase-Schutz über unsere Gesichter. Meine Freundin und ich wurden getrennt. Wir erhielten nur einen Strafzettel für einen Verstoß gegen die Stadtverordnung, aber wurden noch um Mitternacht in die städtische Haftanstalt gebracht. (Es war jetzt mein Geburtstag). Dort konnte ich meine Mutter wieder auf dem Festnetz anrufen. Um 3 Uhr morgens wurden wir in einzelne Zellen gebracht.

Am nächsten Tag um 12 Uhr brachten sie uns aus unseren Zellen. Wir warteten noch etwa fünf Stunden auf unsere Anhörung per Videokonferenz. Fast alle Menschen bei uns wurden freigelassen, ohne eine Kaution bezahlen zu müssen, und alle bekamen einen Gerichtstermin im September. Meine Mutter traf uns vor den Gefängnistüren.

Wir haben verstanden, was das war: Einschüchterung. Es gibt für uns keine andere Erklärung dafür, alle Wege zu blockieren und jemanden auf dem Heimweg zu verhaften.

Am Freitag, 5. Juni, wurde die Ausgangssperre nicht durchgesetzt. Am nächsten Tag wurde sie wieder aufgehoben. In den folgenden Tagen protestierten wir weiter und begegneten anderen DemonstrantInnen, mit denen wir verhaftet wurden. Mit fortschreitenden Protesten kam es auch zu Konfrontationen zwischen Polizei und Demonstranten. Eine Woche später gab es auch in Atlanta einen Toten, unabhängig von den Protesten.

Am Freitag, 12. Juni, schlief Rayshard Brooks, ein „Black man”, in seinem Auto. Er war betrunken und wollte nicht fahren, also wartete er auf dem Parkplatz von „Wendys“, einem Fast-Food-Restaurant. Zwei Polizisten weckten ihn und sprachen mit ihm. Es kam zu einem Streit, und Brooks floh und drehte sich um, um eine Elektroschockpistole abzufeuern, die er einem Polizisten abgenommen hatte. Der Polizist schoss ihm in den Rücken. Laut Staatsanwaltschaft traten die Polizisten Brooks, nachdem er erschossen worden war, und stellten sich auf seine Schultern. Das schilderte mir ein Bekannter, der den Vorfall von einem Restaurant aus beobachtete.

Am nächsten Tag trat unsere Polizeichefin zurück (blieb aber bei der Polizei) und einer der beiden Polizisten wurde entlassen. Die Proteste begannen früh und eskalierten, als die Sonne unterging. Die Proteste konzentrierten sich auf Wendys und das örtliche Polizeirevier. Schließlich verließ die Polizei das Gebiet um Wendys und DemonstrantInnen zündeten das Gebäude an. In den nächsten Tagen versuchten DemonstrantInnen, das Polizeirevier zu besetzen, wie es DemonstrantInnen in Minneapolis getan hatten. Vor kurzem wurde die Nationalgarde wieder in der Stadt eingesetzt.

Atlanta ist nicht einzigartig. Ähnliche Konflikte ereignen sich in Städten in den USA. Wochen ununterbrochener Proteste. Gewalttätige Unterdrückung durch die Polizei. Tränengas, Gummigeschosse und Schallkanonen gegen friedliche BürgerInnen. Die DemonstrantInnen in Seattle schufen eine eigene temporäre autonome Zone im Zentrum der Stadt. Im ganzen Land holten DemonstrantInnen Statuen der rassistischen Konföderation (die Verlierer unseres Bürgerkriegs, die die Sklaverei unterstützten) von den Sockeln.

Es gibt viele Gründe, warum es so viele Demos gab. Ein Grund ist die Coronakrise. Corona ist in den USA immer noch weit verbreitet, hauptsächlich aufgrund mangelnder Reaktion der Regierung. Viele Menschen können nicht arbeiten und StudentInnen können nicht studieren oder machen das zu Hause. Das Leben ist sehr eingeschränkt. Die Videos über Polizeigewalt erregten immense Aufmerksamkeit. Ohne Arbeit haben die Menschen viel mehr Zeit, um zu protestieren.

Die Krawalle und Proteste auf den Straßen brachten mehr Fortschritte als alle anderen Methoden. Martin Luther King Jr. (ein Führer der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegungen in den 50er und 60er Jahren) erklärte: „Ich muss heute Abend sagen, dass Randale die Sprache der Ungehörten ist.”

Wo stehen die USA im Moment? Obwohl an einigen Orten die Anzahl der täglichen Coronafälle dreimal so hoch ist wie beim Lockdown, beginnen Orte wieder, strenge Regeln zu lockern. US-Präsident Donald Trump möchte, dass SchülerInnen im August in die Schulen zurückkehren. Es gibt nicht genug staatliche Unterstützung für Arbeitnehmer und Arbeitslose. Die Polizei ist nicht – wie gefordert – umfassend reformiert worden. Es hat sich viel verändert, aber was in den USA als nächstes passieren wird, weiß niemand. Offen ist auch, wie die Wahlen im November einschließlich der Präsidentschaftswahl ausgehen werden.

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Foto: Will Thomas

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