Corona offenbart Gerechtigkeitslücke

Von Michael Seifert

In den Medien werden fast täglich Meldungen darüber verbreitet, wie unterschiedlich die Corona-Inzidenzwerte in Großstädten zwischen den Stadtteilen sind. Die Werte und damit zugleich das Infektionsrisiko sind in sogenannten sozialen Brennpunkten mit Hochhaussiedlungen, wo der Anteil an MigrantInnen besonders stark ist, deutlich höher als in Villenvierteln. Umfragen in baden-württembergischen Kliniken deuten außerdem darauf hin, dass auf den Intensivstationen der Anteil an PatientInnen mit Migrationshintergrund sehr hoch ist. tünews INTERNATIONAL sprach darüber mit Boris Nieswand, Professor für Soziologie an der Universität Tübingen.

Er erklärt diese Tendenzen mit der sozialwissenschaftlichen „Armutshypothese“, die sehr gut belegt sei: „Arme Menschen, die verstärkt in solchen Stadtteilen wohnen, haben ein höheres gesundheitliches Risiko, erkranken schneller und sterben früher. In Hochhaussiedlungen leben die Menschen einfach enger aufeinander, haben weniger Quadratmeter pro Person zur Verfügung“, erklärt Nieswand. Dass jetzt zunächst in Köln mobile Impfteams in solche Stadtteile gehen, erscheint ihm ein vernünftiger Weg zu sein: „Durch diese direkten und unkomplizierten Impfangebote erreicht man Menschen, die durch Mainstream-Medien nicht zu erreichen sind. Es war sicher richtig, zunächst die besonders gefährdete ältere Bevölkerung zu impfen. Aber jetzt dort, wo ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht, Impfangebote zu machen, wird das Infektionsgeschehen reduzieren – und davon haben wir dann alle etwas.“

Der zweite große Ansteckungsort ist für den Soziologen der Arbeitsplatz. Einkommensschwächere Personen üben eher Tätigkeiten aus, die eine Präsenz am Arbeitsplatz erfordern und für die Homeoffice nicht in Frage komme. Dadurch seien sie auch einem höheren Risiko ausgesetzt. „Große Firmen mit Arbeitsschutzabteilungen können die Corona-Maßnahmen relativ gut implementieren. Aber wie es mit kleineren Firmen und wenigen Beschäftigten aussieht, aber darüber weiß man wenig“, so Nieswand.  Er würde sich wünschen, dass Infizierte und insbesondere auch Kranke mit schwerem Verlauf in Studien befragt würden, wo sie sich möglicherweise angesteckt haben, um Muster zu erkennen.

Wissenschaftliche Studien zeigen bei MigrantInnen eine Zunahme von Erfahrungen mit Diskriminierung und Rassismus in der Coronakrise. Werden MigrantInnen als Sündenböcke gesehen? Boris Nieswand: „Die Frage ‚wer bringt uns die Krankheit?‘ ist eine uralte, denken wir nur an Seuchen oder die Syphilis. Natürlich bringen nach Ansicht der eingesessenen Gruppen immer die anderen die Krankheiten, während sie selbst doch vernünftig und regelkonform handeln. Es ist typisch für gruppenbezogenes Denken, Gefährliches mit fremden Kulturen und Ethnien zu verbinden. Und das schürt natürlich rassistische Vorurteile. Wenn man aber die Ansteckungswege konkret nachvollzieht, sieht man, dass es dem Virus egal ist, ob Menschen Migrationsgeschichte haben oder nicht.“

Daher habe der Rechts- und der Wohlfahrtstaat die Aufgabe, auf alle einzuwirken, um die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen. Diese Methoden seien für alle die gleichen. Denn schließlich gebe es unter den aufgrund von Armut und prekären Arbeitsbedingungen stärker Gefährdeten Menschen mit Migrationshintergrund ebenso wie solche ohne Migrationshintergrund. „Natürlich gibt es viele MigrantInnen, die sich nicht an die Regeln halten, aber auch viele Deutsche. Zuschreibungen helfen nicht, man sollte immer nach praktischen Lösungen suchen. Wenn man die Regeln besser kommunizieren würde, könnte zumindest ein Teil dieser Personen sich regelgerechter verhalten und sich und andere damit weniger infizieren“, sagt der Sozialwissenschaftler mit Schwerpunkt Migrations- und Diversitätsforschung.

Boris Nieswand resümiert: „Letztlich gibt es aufgrund von Armuts- und Arbeitsbedingungen eine Gerechtigkeitslücke: soziale Ungerechtigkeit wirkt sich auch auf die Gesundheit aus, erst recht in Pandemiezeiten.“

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Neukölln, sozialer Brennpunkt in Berlin. Foto: tünews INTERNATIONAL / Michael Seifert.

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