Die Corona-Pandemie vor Ort im Landkreis Tübingen

von Wolfgang Sannwald

Der Autor ist Beschäftigter des Landratsamts Tübingen. Er nahm persönlich vom 23. März bis zum 5. Mai an den Sitzungen des Verwaltungsstabs zur Bewältigung der Corona-Pandemie im Landkreis Tübingen teil.

 

Es war Fastnachtsdienstag, der 25. Februar 2020, als die Corona-Epidemie im Landkreis Tübingen ankam. Jedenfalls erinnert sich Martina Guizetti, die Pressesprecherin des Landratsamts, an einen Anruf des Landrats an diesem Abend. Joachim Walter reagierte aus einem Fastnachtsumzug heraus auf die erste festgestellte Infektion in dem Verwaltungsdistrikt. Das war der zweite Corona-Fall in ganz Baden-Württemberg. Am nächsten Tag stand der Infizierte inmitten eines bundesweiten medialen Interesses, das Landratsamt, zu dem das Gesundheitsamt gehört, erhielt viele Presseanfragen.

Drei Tage später traf sich erstmals der Verwaltungsstab zur Bewältigung der Corona-Pandemie im Landratsamt Tübingen. Er traf bereits Vorkehrungen, obwohl erst nach dem 10. März die Zahl Infizierter anstieg, dann allerdings rasant. Nach und nach wurden Infektionen sichtbar, die Skiurlauber aus den Fastnachtsferien in den Alpen mitgebracht hatten. Seit dem 26. März gab es mehr als 500 positiv Getestete, seit dem 7. April mehr als 1000, Anfang Mai sind es etwas mehr als 1200. Der Landkreis mit seinen circa 227.000 EinwohnerInnen gehörte lange Zeit zu den am stärksten betroffenen Kreisen in Baden-Württemberg und damit auch in ganz Deutschland.

Bereits Anfang März zeichnete sich ein Muster im Umgang mit der Krise ab, das seitdem aus der Sicht des Landkreises durchgängig sichtbar blieb: „Der Bürger vor Ort nimmt den Staat in Form der Kommunen wahr, alles andere ist weit weg“, so zitiert Landrat Joachim Walter den früheren baden-württembergischen Ministerpräsidenten Erwin Teufel. Der Landkreis unternahm mehrere Schritte gegen die Ausbreitung des Corona-Virus stets Tage bevor Anweisungen, Regelungen oder gar Geldzusagen der übergeordneten Behörden eintrafen.

Philip Oltermann von der britischen Tageszeitung „The Guardian“ dachte in einem Artikel vom 5. April 2020 darüber nach, wie sich die Demokratien auf der Welt in der Corona-Krise bewähren. Deutschland zeige, dass sein dezentrales politisches System viel besser mit der Krise zurechtkomme als viele Zentralstaaten. Die Bundesrepublik liegt beispielsweise europaweit bei der Zahl durchgeführter Corona-Tests weit vorne, der Anteil Verstorbener an den Infizierten ist im internationalen Vergleich verhältnismäßig gering. Der Autor des Guardian wies vor allem auf die Organisationsform des öffentlichen Gesundheitswesens hin. Wo in vielen anderen Staaten Europas einheitliche Zentralbehörden für die öffentliche Gesundheit zuständig sind, hat der Gesetzgeber in Deutschland die etwa 400 Gesundheitsbehörden in Kommunen eingegliedert, meist in ein Landratsamt wie im Landkreis Tübingen. Die Landratsämter und deren Chefs, die Landräte, haben Ortskenntnis, sind gut vernetzt und sehen bei sich eine „hohe Verantwortung unseren Einwohnerinnen und Einwohnern gegenüber“, so Landrat Walter. Eine ausgesprochene Stärke der lokalen Zuständigkeit im Krisenfall ist, dass der Landkreis eigene Finanzhoheit hat. Deshalb kann er im Notfall außerplanmäßig innerhalb kurzer Zeit über Geld verfügen und dieses solange auslegen, bis Land und Bund es zurückerstatten. Hinzu kommt, dass der Landrat Beschäftigte aus anderen Bereichen des Landratsamts zur Krisenbewältigung einsetzen kann. Bereits fünf Jahre vor der Corona-Pandemie hatte sich die Kultur des Dezentralen in Deutschland bei der Aufnahme und Integration von Geflüchteten bewährt.

Das Landratsamt kümmerte sich bei der Corona-Pandemie anfangs vor allem darum, die notwendigsten Bedarfe an Desinfektionsmitteln oder Schutzkleidung für Arztpraxen, Pflegeheime, mobile Pflegedienste, Sozialstationen und Zahnarztpraxen sicherzustellen. Wie effektiv die Kommunalverwaltung vor Ort agierte, belegt die Zahl von beschafften Schutzmasken für Mund und Nase. Das Land Baden-Württemberg, das eigentlich die Versorgung sicherstellen sollte, lieferte vom 3. März bis zum 23. April rund 0,2 Millionen Masken. Im Landkreis Tübingen galt Kreisbrandmeister Marco Buess zeitweise scherzhaft als „Speditionskaufmann“. Der Kommunalbeamte beschaffte 3,6 Millionen Gesichtsmasken auf dem nationalen und weltweiten Markt. Weil das Landratsamt auch die Fabriken vor Ort und deren Möglichkeiten kennt, bestärkte es eine Chemiefabrik in Dußlingen darin, Desinfektionsmittel für den akuten Bedarf zu produzieren.

Bei Infektionsgefahren sind bundesweit die Gesundheitsämter für die Infektionsbekämpfung zuständig. In einer ersten Phase wollten sie in der Corona-Pandemie die Zahl Schwerstkranker so niedrig halten, dass die Kliniken bei Bedarf jeden Patienten künstlich beatmen konnten. Wissenschaftler sagen, dass die Infektion eingedämmt werden kann, wenn ansteckende Personen erkannt und unter Quarantäne gestellt werden. Für Tests auf das Corona-Virus muss medizinisches Fachpersonal mit einem Wattebausch Proben von den Schleimhäuten im Rachenraum abstreichen und diese in Labore schicken. All das, die Testung, deren Auswertung und die Anordnung von Quarantäne veranlassen die Gesundheitsämter.  Im Landkreis Tübingen hat das Gesundheitsamt normalerweise etwa 25 Mitarbeitende. Im März und April verdreifachte das Landratsamt dieses Fachpersonal kurzfristig. Hilfe leisteten etwa 50 der insgesamt 900 KollegInnen der Kreisverwaltung.

Die Vorsitzende des Kreisverbandes des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), Dr. Lisa Federle, trug erheblich zur Ausweitung der Corona-Tests im Landkreis Tübingen bei. Ihr Engagement griffen Landrat Joachim Walter und die Kreisverwaltung dankend auf und schufen, was nötig war. In diesem Fall zeigte sich, dass Netzwerke vor Ort sinnvolle Initiativen rasch zur Wirkung bringen können. Überregional laufen solche Initiativen oft Gefahr, im Geflecht unklarer Zuständigkeiten hängen zu bleiben. Federle und das DRK betrieben in Absprache mit dem Gesundheitsamt zunächst ein mobiles Testzentrum. Als der Bedarf weiter stieg, plante und realisierte der Landkreis innerhalb von fünf Tagen eine Drive-in-Teststation in Containern auf dem Tübinger Festplatz. Seit dem 12. März wurden hier mehr als 4000 Personen getestet. Parallel führten Federle und das DRK im April etwa 3000 Tests in Alten- und Pflegeheimen durch. Das war wichtig, weil ältere Menschen besonders anfällig für die Krankheit sind: Der Altersschnitt der bis zum 23. April im Landkreis Tübingen mit Corona-Infektion Verstorbenen 40 Personen lag bei 85 Jahren, 15 hatten in Pflegeeinrichtungen für Ältere gelebt.

Dank all dieser Maßnahmen und denen von Universitätskliniken und Hausarztpraxen im Landkreis Tübingen wurden bis zum 23. April insgesamt fast 11.000 Tests durchgeführt. Die Testquote lag zeitweise viermal und später doppelt so hoch wie im bundesweiten Durchschnitt. Und dies, obwohl das Land zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal die Kostenfrage geregelt hatte. Jenseits seiner Pflichten engagierte sich das Landratsamt auch bei der Behandlung Fieberkranker. Arztpraxen konnten nicht kurzfristig erkennen, ob eine fieberkranke Person in der Praxis als Corona-Patient aufwändig isoliert werden musste. Gleichzeitig mussten sie ihre „normalen“ Patienten behandeln. Auch Kliniken standen vor dem Problem, von Fieberpatienten überrannt zu werden. Deshalb richteten der Landkreis Tübingen und das Deutsche Rote Kreuz am 23. März zusätzlich eine Fieberambulanz mit Containern für Behandlungsräume und Desinfektionsstation auf dem Tübinger Festplatz ein. Bis zum 20. April 2020 behandelten hier eigens beschäftigte ÄrztInnen 766 Patienten. Zeitweise betrieb der Landkreis sogar eine Buslinie zu Testzentrum und Fieberambulanz für Menschen aus dem gesamten Kreisgebiet.

Das Interesse vor allem überregionaler Medien an dem ersten Corona-Infizierten im Landkreis Tübingen Ende Februar machte aus dem Fall eine Sensation. Damals suchten überregionale Fernsehsender aber auch manche überregionale Tageszeitung neben harter Information nach Bewertung, politischen Stellungnahmen und Spekulationen über mögliche Folgen. Dabei fehlten zu vielen der aufgeworfenen Fragen noch Daten und wissenschaftliche Auswertungen. Konkrete Regeln für richtiges Verhalten erarbeiteten WissenschaftlerInnen und Fachleute erst nach und nach. In solchen Fällen erwarten viele Menschen, dass die Verwaltungen vor Ort ihnen konkret helfen, zumindest zeigen, dass sie für sie da sind. Schon am 2. März – es gab weiterhin nur einen einzigen Corona-Fall im Kreisgebiet – ging deshalb eine Telefon-Hotline des Landratsamts ans Netz. Der Landkreis schulte nach und nach rund 200 seiner Mitarbeitenden dafür, an der Hotline Auskunft zu erteilen. Zeitweise arbeiteten hier acht Personen gleichzeitig an sieben Tagen der Woche von 8 bis 18 Uhr. Bis zum 30. April gingen dort mehr als 12.500 Anrufe ein.

Seit Anfang Mai gibt es im Landkreis Tübingen täglich deutlich weniger als zehn neue Corona-Infizierte. Von den Infizierten dürften mittlerweile etwa 1000 Personen genesen sein. Das ist aber keine Entwarnung: Virologen befürchten eine erneute Zunahme der Zahl Infizierter, wenn die Menschen vorgeschriebene Mindestabstände von 1,5 Metern und andere Hygieneanordnungen nicht einhalten. Von seinem Büro im Landratsamt aus hat Landrat Walter Testzentrum und Fieberambulanz auf dem gegenüberliegenden Festplatz immer wieder im Blick. Anfang Mai hörte man von ihm öfters einen Seufzer der Erleichterung: „Es ist fast nix los drüben beim Festplatz“.

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Impressionen zum Leben in Zeiten der Corona-Pandemie: Foto: tünews INTERNATIONAL; Mostafa Elyasian, 05.05.2020

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