Syrische Geheimdienstmitarbeiter in Deutschland angeklagt

von Wolfgang Sannwald

In der „Arrestbaracke“ der KZ-Gedenkstätte Natzweiler-Struthof im Elsass erzählte 2016 eine Expertin, dass in einer mit sechs Quadratmetern beängstigend engen Zelle während der deutschen Gewaltherrschaft vor 1945 zeitweise 19 Menschen gleichzeitig eingesperrt wurden. Sie berichtete einer Gruppe aus Tübingen dann von weiteren Misshandlungen und Folterungen. Ibrahim (Name von der Redaktion geändert), der im Jahr zuvor aus Syrien nach Deutschland geflüchtet war und seitdem in Tübingen wohnt, war blass geworden: Aus so einem Gefängnis sei er gerade geflohen. Damals waren derartige politische Ursachen zur Flucht aus Syrien im Detail kaum bekannt. Jetzt befassen sich deutsche Gerichte damit.

Am 23. April 2020 hat das Oberlandesgericht Koblenz ein Verfahren gegen zwei mutmaßliche Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes begonnen. Die Bundesanwaltschaft spricht vom „weltweit ersten Strafverfahren gegen Mitglieder des Assad-Regimes wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit”. Der Generalbundesanwalt wirft dem Angeklagten Anwar R. vor, er habe sich als Mittäter 2011 und 2012 an 58 Morden, Vergewaltigung und schwerer sexueller Nötigung beteiligt.

Anwar R. soll in der für die Sicherheit des Gouvernements Damaskus-Stadt und Damaskus-Umland zuständigen Abteilung des Allgemeinen Geheimdienstes (Abteilung 251) die Einheit „Ermittlungen“ geleitet haben. Dieser sei das Gefängnis der Abteilung 251 angegliedert gewesen. Er habe die Befehlsgewalt über die Vernehmungsbeamten der Ermittlungseinheit gehabt und sei der militärische Vorgesetzte des Gefängnispersonals gewesen. Die Anklage wirft ihm vor, dass es unter seiner Führung und Verantwortung im Gefängnis zu Tötungen und Folterungen gekommen sei. Vom 29. April 2011 bis 7. September 2012 seien mindestens 4.000 Häftlinge während der gesamten Dauer der Inhaftierung gefoltert worden. Der Generalbundesanwalt nennt Gewalteinwirkung durch Schläge, Tritte und Elektroschocks. Zumindest in jeweils einem Fall sei es auch zu einer Vergewaltigung und einer schweren sexuellen Nötigung gekommen. Den Inhaftierten sei zudem angedroht worden, nahe Angehörige von ihnen zu misshandeln. Die brutalen physischen und psychischen Misshandlungen hätten dazu gedient, Geständnisse zu erzwingen und Informationen über die Oppositionsbewegung zu erlangen. Mindestens 58 Menschen seien infolge der Misshandlungen verstorben.

In dem Gefängnis hätten auch jenseits der genannten Misshandlungen unmenschliche und erniedrigende Haftbedingungen geherrscht. So sei den Häftlingen konsequent eine medizinische Versorgung und die Körperpflege verweigert worden, es habe nicht genug zu essen gegeben, oftmals seien die Nahrungsmittel schlichtweg ungenießbar gewesen. Die Haftzellen seien so stark überfüllt gewesen, dass vielfach ein Hinsetzen oder Hinlegen nicht möglich gewesen sei und Gefangene im Stehen hätten schlafen müssen. Der Angeklagte Anwar R. habe als Leiter der Ermittlungseinheit die Vernehmungsbeamten und Gefängniswärter zum Dienst eingeteilt und deren Tätigkeiten und Arbeitsabläufe, auch den Einsatz von systematischen und brutalen Folterungen, überwacht und bestimmt. Er habe während des gesamten Tatzeitraums über das Ausmaß der Folterungen Bescheid gewusst. Anwar R. sei am 26. Juli 2014 in die Bundesrepublik eingereist.

Eyad A. ist angeklagt, sich 2011 der Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht zu haben. Er sei Mitarbeiter einer Unterabteilung des Geheimdienstes gewesen und habe nach der gewaltsamen Auflösung einer Demonstration mit Kollegen die Straßen nach fliehenden Demonstranten abgesucht. Schließlich seien mindestens 30 Personen festgenommen und mit Bussen zu dem Gefängnis der Abteilung 251 gebracht worden. Eyad A. habe den Transport in einem der Busse begleitet. Die Festgenommenen seien bereits auf der Fahrt zum Gefängnis, wie auch bei der Ankunft im Gefängnis geschlagen worden. Im Gefängnis seien sie dann brutal misshandelt und systematisch gefoltert worden. Der Angeklagte Eyad A. habe bereits bei der Festnahme der Demonstranten um die regelmäßige und systematische Folter in der Abteilung 251 gewusst. Der Angeklagte Eyad A. kam am 25. April 2018 nach Deutschland.

Die beiden Angeklagten sind syrische Staatsangehörige. Das Gericht hat 24 Verhandlungstage zwischen dem 23. April und dem 13. August 2020 bestimmt. Alle zum Fall geschilderten Details gehen aus einer Pressemitteilung des Oberlandesgerichts Koblenz vom 10. März 2020 hervor.

tun042501

 

Foto: Politische Gefängnisse gab es auch in der Deutschen Demokratischen Republik. Daran erinnert zum Beispiel eine Gedenkstätte im ehemaligen Gefängnis der Staatssicherheit in Erfurt. tünews INTERNATIONAL; Wolfgang Sannwald.

Aktuelle Informationen zu Corona: Hier klicken

TÜNEWS INTERNATIONAL

Related posts

Leave a Comment

Contact Us

Magazine Html