Von Nadine Kaczmarek
An einem windigen Tag Ende September 2020 steht eine Gruppe Jugendlicher im Innenhof von Schloss Hohentübingen. In Zeiten der Corona-Pandemie haben sich knapp zehn Zuhörer*innen eingefunden. Gleich beginnt die Führung zur Uni im NS.
Zuvor haben sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in einem 5-stündigen Workshop unter der Leitung von Kreisarchivar Dr. Wolfgang Sannwald und Volontärin Nadine Kaczmarek mit der Universität Tübingen in der Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Schwerpunkt waren die Institute auf Schloss Hohentübingen. Dort etablierte sich schon früh ein Zentrum der Rassenkunde. Auch die Fächer Ur- und Frühgeschichte sowie Volkskunde stellten sich in den Dienst der NS-Ideologie.
Nach intensiver Arbeit an Themen und Biographien wird es für die 15 Jugendguides ernst: um 16 Uhr warten die Zuhörer auf sie. Die Führung findet in 3 Stationen statt. Zu jeder haben die Jugendlichen im Workshop Wissen für eine Präsentation verarbeitet. Nun werden gemischte Führungsgruppen gebildet, den Zuhörern soll kein Thema entgehen.
Die ersten beiden Stationen finden im Innenhof des Schlosses statt. Dort erläutern die Jugendguides zum einen, wie die Urgeschichtsforschung im „Dritten Reich“ versuchte mit Ausgrabungen und wissenschaftlichen Methoden Rückschlüsse auf das deutsche Volk zu ziehen. Die „germanische Rasse“ möglichst weit in die Vorzeit zurückzuverfolgen stand dabei im Mittelpunkt. Dies sollten auch Überreste in der Region belegen. An der zweiten Station berichten die Jugendlichen über das Institut für Rassenkunde. Im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Ideologie stand das „deutsche Volk“. Die Rassenkunde trug zu dessen Definition bei, indem sie es mit wissenschaftlichen Methoden von anderen Rassen abgrenzte. Und sie schuf die Grundlage für die Verfolgung anderer, „minderwertiger“ oder gar „feindlicher“ Rassen. Im Workshop war es unter anderem um die Frage gegangen, ab wann ein Mensch als Jude galt. Anhand von Grafiken und Bildern erklären die jungen Experten beim Gang durch ausgewählte Räume der Universität, die damalige Einteilung von „Volljude“ bis „Vierteljude“. Zu den rassistisch Forschenden am Institut gehörte Hans Fleischhacker, der gemeinsam mit einem Kollegen im Konzentrationslager Auschwitz 86 Menschen selektierte. Diese wurden dann per Bahn lebend nach Natzweiler-Struthof transportiert und dort vergast. Das Ziel von Fleischhackers „Arbeit“ waren die Skelette der 86. Diese sollten einmal in der anatomischen Sammlung der Universität Straßburg rassistischen Studienzwecken dienen.
Die letzte Station führt die Gruppen in die Bibliotheksräume des Ludwig-Uhland-Instituts, wo noch umfangreiches Mobiliar des Instituts für Volkskunde steht. Anhand von erhaltenem Inventar erläutern die Jugendguides die Geschichte direkt am Objekt. Es ging auch in der volkskundlichen Forschung vor allem um die „arische Rasse“ und deren kulturelle Äußerungen. Die ideologisch ausgerichteten Forscher*innen suchten nach Bräuchen, Traditionen und Symbolen, die als typisch „deutsch“ oder germanisch galten. Wenn sich geeignete Symbole – beispielsweise Hakenkreuze – in Gegenständen der Alltagskultur oder Volkskultur fanden, ließ das Institut Möbelstücke und Türen damit verzieren. Auf diese Stücke können sich die Jugendguides an diesem Tag beziehen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entgingen die meisten Wissenschaftler, die der Rassenpolitik der Nazis auf vielen Feldern gedient hatten, der Entnazifizierung. Sie galten als bloße Mitläufer. An diesem Punkt der Geschichte endet die Führung der Jugenduides. Im inzwischen sonnenbeschienenen Schloßinnenhof gibt es durchweg positives Feedback der Zuhörer*innen und ein Foto für die Presse.
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