Vom Erinnern in Kusterdingen
Vortrag von Wolfgang Sannwald, gehalten in Kusterdingen 2008
Meine Damen und Herren, ich habe mich gefragt, was wohl für heutige Kusterdingerinnen und Kusterdinger die wichtigsten Ereignisse ihrer Dorfgeschichte sind. Es ist wohl kaum die zwar bedeutende, aber doch zu ferne Zeit, als eine Familie Edelfreier am Hof der Stauferkaiser den Dorfnamen mit ihrem Adelsprädikat kombinierte. Auch die württembergische frühe Neuzeit oder jene agrarische Epoche, als der Ort dank seiner Viehzucht überregionales Ansehen genoss, kommt wohl nicht in Frage. Ist das Pendeln der Kusterdinger zwischen Fabriken und Wohnort im 20. Jahrhundert besonders in Erinnerung geblieben? Sicher, die Kusterdinger Bombennacht im März 1944, macht den Ort zu einer Ausnahmeerscheinung im ansonsten weitgehend verschonten Landkreis Tübingen. Vielleicht müssen wir auch zur Gemeindereform springen und uns anschauen, wie die damaligen Diskussionen bis heute Duftnoten setzen? Das alles und vieles mehr spielt eine Rolle. Ich werte aber dennoch ein anderes historisches Ereignis als noch wirksamer für die historische Identität Kusterdingens. Vielleicht wird Sie der Bogen, den ich heute Abend spanne, überraschen. Er reicht von Inhalten, Formen und Sinn des Erinnerns hin zu dem, was meiner Überzeugung nach das aus heutiger Perspektive wichtigste Ereignis der erinnerten Kusterdinger Geschichte ist.
Die Kusterdinger Jahrgangskohorte 1939/40
Schon drei Jahre vor Herbert Raischs prächtigem Heimatbuch ist in der Gemeinde Kusterdingen ein ungewöhnliches Buch erschienen. Der Titel des 72 Seiten starken Werkes: „So war´s damals in Kusterdingen. Ein Jahrgang erzählt lebendige Ortsgeschichte(n)“. Den Anlass zu dem Buch bot die Goldene Konfirmationsfeier des Geburtsjahrgangs 1939/40 im April 2004, bei der „so viele gemeinsame Erlebnisse wieder lebendig“ wurden, dass die Chronisten daran gingen, alles aufzuschreiben, „was uns in den Jahren unserer Kindheit und Schulzeit begleitet und geformt hat“. Die Angehörigen des Jahrgangs haben sich verständigt, ihre Erinnerungen zu einem Bild vom Gewesenen verschränkt.
Ein wichtiges Kapitel des Kusterdinger Buches befasst sich unter der Kapitelüberschrift „Mangel macht erfinderisch“ mit prägenden Erfahrungen der Jahre 1946 bis 1949, als die Erzählenden in die Grundschule gingen. Die Teilüberschriften zeichnen ein den Jahrgangsmitgliedern gemeinsames Bild der seinerzeitigen Versorgungskrise: „Vom Buchele zum Öl“, „Die Geiß bockt“, „Metzelsupp und Grieben“, „Bohnenkern und süße Nudeln“ oder „Klepfer und g´nagelte Schuh“. Wer 1939 in Deutschland geboren ist, wird die Mangeljahre ähnlich erlebt haben, wenn die damit verbundenen Bilder auch lokal unterschiedlich sein mögen. Das ist die Generation, deren Mitglieder auch noch in Zeiten der Wohlstandsgesellschaft verschimmelte Nahrungsmittel nur schweren Herzens wegwerfen konnten – wenn überhaupt. Die für den Jahrgang 1939/40 prägenden Erinnerungen an Versorgungsengpässe teilt der Jahrgang 1969 höchstens vom Hörensagen oder vom Staunen über die Marotten der Eltern. Dass die Jahrgangskohorte von 1969 völlig andere Jugenderfahrungen gemacht hat, führt zu einem anderen Erinnerungsprofil und zu einem anderen Umgang mit Sachen, insgesamt zu einer anderen Weltsicht.
Hätten die Mitglieder des Kusterdinger Jahrgangs 1939/40 ihre Erinnerungen nicht aufgeschrieben, sondern sich zum Beispiel nur bei Jahrgangstreffen darüber ausgetauscht, dann hätten sie immer nur eine momentane Übereinstimmung erzielt. Bei jedem Treffen hätte sich diese Übereinstimmung mehr oder weniger verändert. Das soziale Gedächtnis hat keine feste und stabile Form, es wird immer wieder ausgehandelt. Dementsprechend ist vieles in der mündlichen Überlieferung „schattenhaft, mysteriös und verbogen“. Trotzdem hätte es einen Kern gemeinsamer Erinnerung solange gegeben, als Mitglieder des Jahrgangs am Leben sind. Erinnerungsteile wären über Erzählungen an Kinder und Enkelkinder weitergegeben worden. Normalerweise geht „lebendige“, mündlich erzählte, Erinnerung nach drei Generationen, das sind etwa 80 bis 100 Jahre, verloren. Man spricht vom Drei-Generationen-Gedächtnis. Danach werden die Erinnerungen vergessen. Vergessen ist nicht schlimm. Vergessen ist ein psychisch notwendiger Vorgang, weil die Kapazitäten des Gedächtnisses begrenzt sind.
Manchmal ist Vergessen aber schade. Im Ausstellungsprojekt „Erlebte Dinge“ des Kreisarchivs Tübingen, das ja auch in enger Zusammenarbeit mit dem Altenkreis von Inge Hahn in Kusterdingen Station gemacht hat, gab es einen Schlüsselbund. Seine Besitzerin erzählte, wie sie damit unmittelbar vor der Flucht alle Türen ihres Hauses in Ostpreußen abgesperrt hatte. Sie bewahrte den Bund ein halbes Jahrhundert lang auf, in der Sehnsucht, zurückkehren und ihr Heim wieder aufschließen zu können. Ohne ihre Erzählung bliebe der Schlüsselbund nahezu bedeutungslos.
Schade wäre auch, wenn Friedrich Hinderer, sein Bruder und vor ihnen der Vater nicht Tagebuch geschrieben hätten. Das ist eine private Form, Erinnerungen über Generationen hinweg festzuhalten und zu überliefern. Gottseidank hat er auch seine frühen Amateurfilme gedreht und vorgeführt. Ein großer Dank gilt auch Heinz Wolpert für seine vielen Sammlungen zur Kusterdinger Geschichte oder Walter Schmid für die Erinnerung an viele Auswandererschicksale. Zum Glück wusste Josef Seubert mit Schriftzeichen in einer Kusterdinger Scheune etwas anzufangen, so dass er die Schicksale ungarischer Jüdinnen 1945 mit ihrem hiesigen Aufenthalt verknüpfen und in die Erinnerungskultur Kusterdingens einbringen konnte.
Solches Erinnern ist der Widerpart des Vergessens. Erinnern ist wichtig, weil es unter anderem der Schaffung von Identität dient. Identität ist, grob vereinfacht, wie wir uns selbst wahrnehmen und wie wir uns als Teil der Welt wahrnehmen. Zentrale Bausteine der Identifikation sind Erfahrungen, Beziehungen oder Bewertungssysteme. Diese Bausteine speichern wir als Erinnerungen. Wenn wir sie aus der Erinnerung abrufen, geschieht das meist in Form von Erzählungen, durch die wir solchen Bausteinen Form und Struktur geben. So ein Erzählzusammenhang kann beispielsweise lauten: „In Kusterdingen lebten um 1800 fast alle von der Landwirtschaft. Im Laufe des 19. Jahrhunderts öffneten in Reutlingen Fabriken ihre Tore und viele Kusterdingerinnen und Kusterdinger gingen dort zur Arbeit. Heute ist Kusterdingen Wohnort von vielen Arbeiterpendlern.“ In diese Erzählung kann sich das Individuum selbst einfügen: Gehört es selbst oder ein Familienangehöriger zu den Arbeiterpendlern? Vielleicht standen beim Opa oder Uropa noch zwei Kühe im Stall? Erinnern Sie sich an den Geruch nach Ammoniak? Oder tauchen Bilder und Duft von frisch geschöcheltem Heu in Ihren Gedanken auf?
Wer sich oder seine Familie so in die langfristigen und scheinbar zielgeleitet fortschreitenden Entwicklungen der Dorfgeschichte einfügen kann, empfindet seine persönliche Existenz womöglich als Teil eines übergeordneten Sinnzusammenhangs. Und nicht nur das. Gleichzeitig nimmt er sich als Teil der Dorfgemeinschaft und in dieser als einzigartig wahr. Ein Kusterdinger des Jahrgangs 1939 weiß genau, dass es aus dem Ort keinen zweiten gibt, der genau dasselbe erlebt hat, der genau so ist, wie er selbst. Es gibt keinen zweiten Manfred Wandel seines Jahrgangs aus Kusterdingen. Damit gibt es auch keinen vergleichbaren Manfred Wandel weltweit. Diese Vergewisserung der eigenen Identität ist im übersichtlichen heimatlichen Rahmen – in Kusterdingen oder einem anderen Ort, auch einer Stadt – besser möglich als in Ländern, Nationen oder gar Kontinenten. Menschen haben ein Grundbedürfnis nach derartiger Identität, sie wollen sich nicht nur zufällig wissen. Bausteine der Identität sind Erinnerungen. Insofern gibt es auch ein menschliches Grundbedürfnis nach Erinnerung.
Die Übernahme schriftlich fixierter Erinnerungen des Kusterdinger Jahrgangs 1939 in ein Archiv oder eine Bibliothek gibt dessen sozialem Gedächtnis eine erhöhte Dauerhaftigkeit. Diese reicht weiter, als die lebendigen Gedächtnisse eines Individuums oder einer sozialen Gruppe. Wir sprechen hier vom Kollektivgedächtnis. Die Initiatoren des Buches, Ursula Petzold und Manfred Wandel, nannten ausdrücklich als Motivation: „Wenn wir jetzt nicht aufschreiben, wie es damals war, wird ein Teil der Geschichte unseres Dorfes Kusterdingen verloren gehen. Deshalb haben wir die Chronik nicht nur für uns, sondern auch für die nachfolgenden Generationen … niedergeschrieben…“ Die im Buch festgehaltenen Erinnerungen haben die Chance, noch lange nach dem Tod des Letzten aus der Generation und damit länger als 100 Jahre lebendig sein zu können. Was in Archive und Museen oder Bibliotheken gelangt, genießt eine relative Sicherheit vor dem Vergessen, es bleibt als Erinnerung abrufbar. Die zeitliche Reichweite des kollektiven Gedächtnisses wird nur durch die Alterungsbeständigkeit etwa des Papiers begrenzt.
Diese Eigenschaft kommt Gemeinden und anderen Kollektiven zugute. Denn Gemeinden oder auch Staaten, von denen ja beispielsweise Kusterdingen heuer 900 Jahre auf dem Buckel hat, benötigen ebenfalls Erinnerung für ihre Identitätsbildung. Aufgrund ihres Alters reicht ihnen das Drei-Generationen-Gedächtnis für die Sicherung der Erinnerungen nicht aus. Solche Gebilde benötigen längere Orientierungsräume. Sie brauchen dauerhafte Kulturformen zur Speicherung und Belebung ihrer Erinnerungen, eben Archive, Bibliotheken und Museen, aber auch Rituale wie die Feier eines Gemeindejubiläums. Herbert Raisch hat im Kusterdinger Heimatbuch Ortsgeschichte sinnstiftend erzählt und sie dadurch fürs individuelle Gedächtnis gewonnen und dadurch zum generationenübergreifenden Gedächtnis der Gemeinde beigetragen.
Bei der Vermittlung von Erinnerungen an soziale Gruppen und Kollektive spielt zunächst das Auswählen von Erinnerungen eine zentrale Rolle. Schon wir selbst, jeder von uns, hat häufig viel mehr im Kopf, als jemals zum Vorschein kommt. Da gibt es tausende von Erinnerungen, die nie erzählt werden. Es bedarf zunächst des Auswählens und dann des Erzählens – in welcher Form auch immer -, damit gespeicherte Erinnerungen wieder in die lebendigen Erinnerungen von Individuen, sozialen Gruppen oder Kollektiven einfließen. Erst durch das Erzählen gewinnen Erinnerungen sozial und gesellschaftlich Relevanz. Um beim Kusterdinger Jahrgang zu bleiben: Ich habe Ihnen etwas aus dessen Erinnerungen an die Versorgungskrise erzählt. Vielleicht denkt sich die eine oder der andere: „das war schon recht, so sparsam mit Lebensmitteln zu wirtschaften, wenn ich da meine Kinder und deren Verhalten anschaue …“ Ein anderer: „…aber die verschimmelte Marmelade…“
Erzählungen zur Heimatgeschichte lassen uns in der Regel nicht kalt. Gerade das Heimatbuch betrifft viele unmittelbar, hat oft einen hohen emotionalen Gehalt. Alleine schon, wer sich oder Verwandte und Bekannte auf den vielen historischen Fotos im Kusterdinger Heimatbuch entdeckt, kann angesichts des Blicks in jüngere Jahre kaum „cool“ bleiben. Heimat erweckt Gefühle, das haben die Härtendörfer massiv während der Gemeindereform erfahren, als es vielen um die Verteidigung der Selbständigkeit ihres Dorfes ging, dann um die Akzeptanz eines gemeinsamen Gemeindenamens, bis heute um die Komposition eines Gemeindewappens. Dies hängt mit einem Aspekt von Heimat zusammen, um den ihn vor allem die deutsche Romantik angereichert hat. Letztendlich geht es bei diesem emotionalen Gehalt um das Heimatbedürfnis, das eng mit dem nach Sicherheit und Identität zusammenhängt. Wohl jede und jeder möchte sich irgendwo sicher, zuhause und verwurzelt fühlen. Wenn dieses Stück Heimat bedroht wird, reagieren wir emotional.
ZwangsarbeiterInnen in Kusterdingen
Heimat scheint besonders mächtig auf, wenn man sie nicht hat. Dann werden Bedürfnisse deutlich, Sehnsüchte entstehen. Die emotionale Seite der Heimat wurde denn auch am frühesten in Form des Heimwehs Schweizer Söldner im 16. Jahrhundert zur Kenntnis genommen. Damals quittierten ganze Fähnlein ihren Dienst in Italien aus Heimweh und zogen zurück über die Alpen nach Hause. Staatlicherseits hat man sich deshalb mit dem Symptom früh befassen müssen. Ärzte führten Heimweh mitunter auf den Luftdruck zurück – empfahlen als Kur, die befallenen Soldaten auf Türmen einzusperren, damit sie sich dort einer Luftdruck-Therapie unterziehen konnten.
Abwesenheit von Heimat tut also weh. Sie bedeutet Fremde. In ihrer Negation verweist Heimat auch auf die Entrechteten bei uns, die hier entfremdet wurden. Eine Kultur des Erinnerns umfasst auch den durch rassische oder politische Ausgrenzung bewirkten Entzug von Heimat, den Heimatraub. Die Erinnerung an die Entrechteten und Ermordeten und insbesondere deren verbliebene Erinnerungen haben einen besonderen Bedarf nach Speicherung und Vergegenwärtigung. In einem Dorf wie Kusterdingen, wo 1933 keine Juden lebten, lässt sich das Thema an anderen Bevölkerungsgruppen fest machen.
Sogenannte Zivilarbeiter und Ostarbeiter gab es auch in Kusterdingen. Die meisten dieser Zivilarbeiter nichtdeutscher Herkunft wurden unter Zwang dazu gebracht, fern ihrer Heimat zu Niedriglöhnen für die Interessen eines Staates zu arbeiten, der gegen ihr Vaterland Krieg führte. Während ihres Arbeitseinsatzes wurden sie zudem in vielfacher Weise, etwa durch Lagerunterbringung, Nationalitätenzeichen oder Überwachung, diskriminiert. Zwangsarbeiter kamen während des Zweiten Weltkrieges in sämtlichen Teilorten der heutigen Gemeinde Kusterdingen zum Einsatz. In Kusterdingen und den Kusterdinger Teilorten konnte ich insgesamt 136 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter nachweisen. Sie trafen gruppenweise bei größeren Transporten Mitte Mai 1942 in Immenhausen und Mähringen, Ende November 1942 und Anfang März 1943 in Kusterdingen ein. Für Kusterdingen selbst lassen sich die im Ort eingesetzten Zwangsarbeiter mit einem gewissen Rechercheaufwand gut dokumentieren. Ich bin dazu in 14 unterschiedlichen Akten und Bänden fündig geworden. Für den Ort Kusterdingen kann ich auf diese Weise 45 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter nachweisen. Es handelte sich vor allem um Ukrainer, davon 23 von polnischer Staatsangehörigkeit und 19 von russischer Staatsangehörigkeit.
Meist standen diese Zwangsarbeiter bei Bauern als Landarbeiter in einem „Beschäftigungsverhältnis eigener Art“, für das deutsche arbeitsrechtliche und arbeitsschutzrechtliche Vorschriften nicht generell galten. Beispielsweise erhielten kranke „Ostarbeiter“ keinen Urlaub, im Krankheitsfall bekamen sie keine Fortzahlung. „Arbeitgeber“ mussten für ihre Zwangsarbeiter eine „Ostarbeiterabgabe“ abführen, welche die Gemeinde einzog und an das Finanzamt weiterleitete. Die „Ostarbeiter“ erhielten ihrerseits eine festgelegte Entlohnung. Diese lag im Bereich der Landwirtschaft etwa acht Prozent unter den Löhnen vergleichbarer deutscher Arbeiter. Der Unterschied wirkt auf den ersten Blick nicht groß. Für freie Unterkunft und Verpflegung mussten die Ostarbeiter jedoch einen Abschlag hinnehmen, der dazu führte, dass ihr ausbezahlter Lohn nur noch höchstens 17,5 Prozent des Lohns deutscher Landarbeiter betrug. Sachleistungen wie Bekleidung und Schuhe – ein paar Holzschuhe kostete einen halben Monatslohn – sollten zu angemessenen Preisen mit ihrem Lohn verrechnet werden.
Die Gemeinde Kusterdingen unterhielt für die Zwangsarbeiter ein Lager im Gebäude der Milchverwertungsgenossenschaft in der Lindenbrunnenstraße 2, wofür die „Arbeitgeber“ Unterkunftsgeld bezahlen mussten. Die Aufsicht führte der Feldschütze. Er begleitete auch einzelne Zwangsarbeiter bei Genehmigung nach auswärts, etwa den Nikolaj Schewjakow im Dezember 1943 in die Chirurgische Universitätsklinik nach Tübingen. Auch die Gemeinde selbst setzte Zwangsarbeiter per Dienstverpflichtung ein. Nachweisen lässt sich dies vor allem und in größerem Umfang zum Holzmachen im Gemeindewald, aber auch für das Reinigen von Schächten.
Der Justizmord an Theodor Kalymon
Unter den Kusterdinger Zwangsarbeitern findet sich auch der am 23.9.1922 geborene Theodor Kalymon aus Nowosilka in der polnischen Ukraine. Er kam am 16.5.1942 nach Kusterdingen, im Alter von 20 Jahren. In den Listen steht als Ergänzung: „12.5.1943 Exekution“. Die Erinnerung an dieses Schicksal gehört zu den Kapiteln Kusterdinger Ortsgeschichte, die eine Zeit lang einer offenen Erinnerungskultur im Weg standen. Der Tübinger Kulturwissenschaftler Utz Jeggle verzweifelte 1982 an „K-Dorf“, wie er es anonymisierend nannte: „…selten hat mir ein Projekt so viele gute und schlechte Emotionen abgefordert, mich tagsüber in Erregung gehalten und noch nachts in den Träumen umgetrieben“, so Jeggle damals. Ein geplantes Ausstellungsprojekt fiel seinerzeit aus. Ein Jahrzehnt später, bei unserer Ausstellung „Erlebte Dinge“ und im Anschluss bei den Veranstaltungen des Kreisarchivs mit der Gemeinde zur Kusterdinger Bombennacht und zum Kriegsende, herrschte bereits ein verändertes Gesprächsklima.
Unser heutiges Bild von den Ereignissen stellt sich, kurz zusammengefasst und Einzelpersonen schonend, so dar: Eine Kusterdinger Familie ahnte nicht, welche Dimension eine von ihr vermutlich vorgeschobene Anzeige wegen “unkorrekten Verhaltens” gegen den im Haus beschäftigten Ukrainer Kalymon nach sich ziehen würde. Zum Entsetzen des ganzen Ortes traf am 10. Mai die Entscheidung des obersten SS-Gerichtes aus Berlin ein, das die Erhängung Kalymons auf den 12. Mai anordnete. Versuche, den Justizmord durch den Rückzug der Klage zu verhindern oder eine Revision des Urteils zu erreichen, wurden abgelehnt. Gestapobeamte vollzogen die Exekution: “Auf einmal waren da drei Autos, auf dem letzten ist der Galgen gestanden”, beobachtete eine Augenzeugin die Ankunft des SS-Standgerichts, das die Hinrichtung als öffentliches Ereignis in Szene setzte. Alle Zwangsarbeiter aus Kusterdingen und Umgebung wurden zur Teilnahme gezwungen. Sie folgten den Wagen bis zum alten Steinbruch und sahen dort den Justizmord mit eigenen Augen. Kalymons Leichnam erhielten Anatomen der Universität Tübingen für medizinische Experimente, seine Reste ruhen im Gräberfeld X auf dem Tübinger Stadtfriedhof. “Die Empörung der Bevölkerung war ungeheuer”, schilderte Pfarrer Emil Martin die Reaktionen der Kusterdingerinnen und Kusterdinger auf die Exekution, “da man allgemein das Empfinden hatte, daß ein großes Unrecht hier geschehen war“. Einigen Einwohnern sind die letzten Worte des Erhängten noch gut im Gedächtnis: „Unter Heulen hat er gesagt: Ich bin unschuldig”.
Erinnerungskulturelle Folgen
Vielleicht war es so etwas wie kollektives schlechtes Gewissen, das manche Kusterdingerinnen und Kusterdinger dazu veranlasste, im fehlgeleiteten Angriff alliierter Bomberflugzeuge 1944, der Stuttgart gegolten hatte, aufgrund von Falschmarkierungen zum Teil jedoch Kusterdingen traf, Vergeltung für den Justizmord an Kalymon zu sehen. Sehr wahrscheinlich ist, dass die sogenannte „Polenschlacht“ am 7. Juni 1945 – kurze Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – mit der Erinnerung ehemals polnischer Zwangsarbeiter an die Exekution in Zusammenhang steht. Als am Vormittag dieses Tages einige von ihnen in Kusterdingen – dem bevorzugten Ziel ihrer Streifzüge – plündern wollten, kam es zu einer kleinen Schlägerei. Am Nachmittag kehrten die auf 30 Mann verstärkten Polen zurück. Einige Kusterdinger hatten sich mittlerweile mit Prügeln und Äxten gerüstet. Bei einer Massenschlägerei trugen acht polnische Männer Wunden davon. Daraufhin verbreiteten einige der ehemaligen „Fremdarbeiter“ in Tübingen das Gerücht, dass in Kusterdingen fünf erschlagene Polen liegen würden; die Kusterdinger hätten sogar zweien von ihnen mit Sensen die Köpfe abgeschnitten. Ein französischer Fremdenlegionär, der in Polen geboren worden sein soll, rückte gegen 19.30 Uhr mit einer Abteilung Soldaten in den Ort ein. Sie verhafteten willkürlich Männer von der Straße weg, viele kehrten gerade von der Arbeit zurück. Die Gefangenen mussten sich vor einem Gartenzaun beim Rathaus aufstellen. “Ich hab an den Häusern raufgeguckt”, erinnert sich ein älterer Mann, der damals in der Reihe der 14 Geiseln stand, “und ich hab gedacht, jetzt siehst du die Häuser zum letzten Mal. Die Franzosen sind auf der anderen Seite gestanden mit den Gewehren und man hat vom Krieg her gewusst, das gibt eine Erschießung“. Pfarrer Emil Martin warf sich vor dem Offizier auf die Knie und richtete in französischer Sprache einen “eindringlichen Gewissensappell” an die französischen Soldaten. In letzter Minute konnte er die Erschießung der Kusterdinger verhindern; der Ort einer Rettungstat heißt heute Emil-Martin-Platz.
Intime Heimatgeschichte, wir sehen es am Beispiel Kusterdingens besonders deutlich, ist nicht nur gemütlich. Den Licht- und Schattenseiten, die jeder Mensch besitzt, folgt auch die emotionale Berg- und Talfahrt des Erinnerns. Wer sich nur an Positives erinnert, dem fehlt vermutlich ein Stück von seiner Persönlichkeit. Das ist bei jedem persönlich so, das gilt aber auch für Gemeinden. Ein Kusterdinger Jubiläum ohne die bis heute nachwirkenden Ereignisse um Zwangsarbeiter im Ort und insbesondere um den Zwangsarbeiter Theodor Kalymon, würde auf einen wichtigen Aspekt der Identität der Gemeinde verzichten. In wie vielen Köpfen ist das Erinnern an die damaligen Ereignisse noch klar abrufbar? In wie vielen Köpfen geistert es diffus? Pfarrer Martin, der ja über intimste Kenntnisse der Gedankenwelt seiner Kirchengemeinde verfügte, berichtete, dass sich die genannten Ereignisse „unauslöschlich in die Erinnerung“ der damals lebenden Kusterdinger eingegraben haben. Er stellte in der Rückschau, die Herbert Raisch im Heimatbuch abgedruckt hat, auch den Zusammenhang zur kollektiven Erinnerung her: Im Anschluss an die Exekution fürchteten Kusterdingerinnen und Kusterdinger, „dass der ganze Ort das gegen den Willen der Bewohner verübte Verbrechen noch werde büßen müssen“. Sicherlich: der Bombenangriff in der Nacht vom 15. auf den 16. März 1944 stand nachweislich in keinem ursächlichen Zusammenhang zum Justizmord an Kalymon. Und dennoch: Geistert hierorts nicht doch noch der eine oder andere Gedanke von einer höheren Gerechtigkeit durch die Köpfe? Ich hatte während vieler Jahre der Beschäftigung mit Kusterdingens Vergangenheit immer wieder den Eindruck, dass die Ereignisse von 1943 eine der nach wie vor wirksamsten Erinnerungen im kollektiven Gedächtnis der Kommune sind, zementiert durch das Ereignis selbst, durch gespürte oder unterstellte Bezüge zur Bombennacht und durch den Zusammenhang mit der sogenannten Polenschlacht. Meiner Meinung nach handeln Kusterdingerinnen und Kusterdinger richtig, wenn sie die Ereignisse zwischen Mai 1943 und Juni 1945 in ihrem intimen historischen Gedächtnis lebendig halten. Gerade Heimatgeschichte braucht, wenn sie dem wirklichen Leben nahe bleiben will, immer wieder den Perspektivenwechsel, hin zu Randgruppen und Minderheiten.