Über Heimweh und die zweite Heimat

Von Ute Kaiser
Lobna Alhindi hat immer wieder Albträume. Darin sitzt die Syrerin wie Ende 2014 mit ihrem kleinen Sohn im Schlauchboot – auf der überstürzten Flucht von der Türkei nach Griechenland. Was die Mitarbeiterin von tuenews INTERNATIONAL und ihre Kolleginnen Oula Mahfouz und Batool Hadous im Wildermuth-Gymnasium berichteten, ging den ElftklässlerInnen vom Leistungskurs Gemeinschaftskunde unter die Haut. Joseph, der sich im Bus, Café oder bei Veranstaltungen schon mit Geflüchteten unterhalten hat, machte eine neue Erfahrung: mit jemandem zu sprechen, der „in einem Schlauchboot geflohen ist“. Nicht nur er war davon angetan, wie „offen und frei“ die drei Gäste von sich und ihren Erfahrungen erzählten. Auch Lucy fand es „sehr spannend“ und war beeindruckt, „wie sie über die Einzelheiten ihrer Flucht gesprochen haben“.
21 SchülerInnen um die Leistungskurs-Leiterin Anne Voykov hatten sich gründlich auf die Interviews kurz vor den Weihnachtsferien vorbereitet. Vor den SchülerInnen lagen Listen mit vielen Fragen. In den Gesprächen wiesen sie darauf hin, dass ihre Gäste nicht über etwas reden müssen, das ihnen zu nahe geht. Doch die drei Syrerinnen, die inzwischen deutsche Staatsbürgerinnen sind, sprachen über alles Mögliche: von ihren Fluchtgründen über die Erlebnisse auf der Flucht und bei ihrer Ankunft in Deutschland, inklusive der Schwierigkeit, Dokumente aus Syrien zu beschaffen, bis zu ihrem heutigen Leben in dem Land, das Batool Hadous eine „zweite Heimat“ nennt.

Die tuenews-Mitarbeiterinnen Oula Mahfouz, Batool Hadous und Lobna Alhindi sprachen mit den ElftklässlerInnen vom Leistungskurs Gemeinschaftskunde des Tübinger Wildermuth-Gymnasiums über ihre Flucht und ihr Ankommen in der deutschen Gesellschaft. Leistungskurs-Leiterin Anne Voykov (Mitte) fotografierte die Gesprächsrunden. Foto: tünews INTERNATIONAL / Ute Kaiser.

Die Arabisch-Lehrerin Oula Mahfouz flüchtete über Ägypten und Libyen. In dem nach dem Sturz von Diktator Muammar al-Gaddafi durch Machtkämpfe geprägten Land sorgte sie sich um die Sicherheit ihrer Familie. „Es war sehr traurig und gefährlich“, sagte die Mutter von fünf Kindern. Ihre Töchter und Söhne seien „sehr diskriminiert“ worden.
Die Überfahrt nach Italien war der Horror – obwohl sie, so Oula Mahfouz, „zum Glück nur 14 Stunden dauerte“. Ein viel zu kleines Boot, auf dem sie mit Hunderten anderer Geflüchteten, aber getrennt von zweien ihrer Kinder saß. Die bewaffneten Schleuser hätten den Bootsinsassen ihre paar Datteln, das bisschen Wasser und die Rucksäcke weggenommen.
Ursprünglich wollte Oula Mahfouz mit ihrer Familie zu Verwandten nach Dänemark und hatte schon Zugtickets. Doch sie wurde in Deutschland aufgegriffen. Die Flucht endete zunächst in Nürnberg. In der Erstaufnahme hatte sie „immer Angst, was passieren würde“. Aber sie empfand es auch als „wichtig, dass wir in Sicherheit waren“. Im Kreis Tübingen ist die Familie längst angekommen. Die jüngeren Kinder gehen noch zur Schule, die beiden älteren Töchter bestanden das Abitur und studieren.
Batool Hadous hat Fachabitur am Kepler-Gymnasium gemacht und arbeitet aktuell als Bufdi bei tuenews. „Mit Deutschen Kontakt zu haben, war schwierig“, sagt sie über die Anfänge. Auch Jugendliche wussten fast nichts über die Situation in Syrien. Viele Begegnungen waren verletzend. „Ich habe nicht nur eine andere Augenfarbe, sondern trage auch ein Kopftuch.“ Eine Frau versuchte, Batool Hadous den Hijab herunterzureißen und beleidigte sie. Jugendliche fragten, wie sie dusche oder ob sie keine Haare habe. Batool Hadous geht damit offensiv um. Sie versucht, über Fluchtgründe und ihre Religion zu informieren. Schon nach acht Monaten sprach sie zum ersten Mal Deutsch mit jemandem. Batool Hadous will lernen und aufklären. Wann immer sie kann, versucht sie, sich mit Menschen über die jeweiligen Bräuche und Traditionen zu unterhalten.
Weil sie in Deutschland eine „zweite Heimat mit allen Rechten und Pflichten“ finden wollte, engagierte und engagiert sie sich unter anderem bei der Wüsten Welle, bei tuenews INTERNATIONAL und in der Volkshochschule. Lucy fragte Batool Hadous, was die immer stärker werdende AfD mit ihr mache. „Ich habe zu viel erlebt, um Angst zu haben“, so die 21-Jährige. Es gebe inzwischen auch zahlreiche Geflüchtete, die deutsche Staatsbürger sind. „Wir sind ein Teil dieser Gesellschaft.“ Das heißt auch: „Wir werden wählen, und wir wissen, was Rassismus ist.“
Eine Rückkehr nach Syrien schließen die Frauen aus. Lobna Alhindi glaubt, „ich würde das Leben meiner drei Kinder kaputt machen.“ Doch sie weiß auch von etlichen Geflüchteten, die sich nicht wohl fühlen, Heimweh haben, sich nicht integrieren und anders als die sprachbegeisterte ehemalige Grundschul-Lehrerin nicht richtig Deutsch lernen wollen. Auch sie vermisst das lebendige Leben an Wochenenden wie in den syrischen Geschäftsstraßen, die spontanen Besuche, die in Deutschland eher unüblich sind, oder die Grillnachmittage am Meer. Doch sie und ihre syrischen Bekannten sind angekommen. „Sie arbeiten alle oder sind selbstständig.“ Max fragte Lobna Alhindi, was sie Leuten raten würde, die aus einem Kriegsland flüchten wollen. „Keine Zeit verlieren und gleich die Sprache lernen.“ Und: „Wenn sie die Chance wie ich hätten, in Deutschland zu leben: glücklich sein.“
Info: Das Gespräch im Wildermuth-Gymnasium führten die SchülerInnen für das Projekt „Tagblatt in der Schule“; daran beteiligt ist das „Schwäbische Tagblatt“ in Tübingen.

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www.tuenews.de

Das Wildermuth-Gymnasium in Tübingen. Foto: tuenews INTERNATIONAL / Mostafa Elyasian.
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