Besonders schutzbedürftig: queere Geflüchtete im Landkreis Tübingen

Von Ute Kaiser
Gleich bei der ersten Begegnung wird ein Zeichen gesetzt: Auf der Hülle des Dienst-Handys klebt die Regenbogen-Fahne. Sie ist das Symbol für einen „geschützten Raum“, so Steffen Müller-Mychajliw vom Fachdienst für Geflüchtete im Tübinger Landratsamt. Die geflüchtete Person, die ihm oder anderen MitarbeiterInnen des Fachdiensts gegenübersitzt, kann sicher sein: „Die Beratung ist anonym, offen sowie geprägt von Vertrauen und Akzeptanz“, sagt Müller-Mychajliw im Gespräch mit tünews INTERNATIONAL. Er ist Leiter des Regionalteams Tübingen und Ansprechpartner für alle KollegInnen vom Fachdienst zum Thema queere Geflüchtete.
Die Regenbogen-Fahne ist seit 1978 ein Symbol der Schwulen- und Lesbenbewegung. Die Flagge steht inzwischen aber auch für Menschen, die bisexuell, transsexuell, transgender, intersexuell und queer sind (LSBTTIQ). Aktuell betreut das Team vom Landratsamt neun LSBTTIQ-Geflüchtete. Die 44 MitarbeiterInnen im Fachdienst sind multiprofessionell. Sie haben Ausbildungen in Bereichen wie Sozialarbeit, Sozialpädagogik oder auch Islamischer Theologie. Und das Team ist multikulturell. MitarbeiterInnen sprechen unter anderem Arabisch, Türkisch und Georgisch.
Im Januar 2023 kamen die ersten LSBTTIQ-Geflüchteten im Landkreis Tübingen an. Sie lebten vorher unter anderem in Afghanistan, Nigeria, Nordmazedonien, der Russischen Föderation, im Senegal und im Sudan. In Staaten wie Iran oder Nigeria, aber auch in Afghanistan können Menschen, die außerhalb der Heteronormativität (einer Weltanschauung, nach der es ausschließlich zwei Geschlechter gibt) leben, mit dem Tod bestraft werden. Gerade erst hat die Justiz in Russland die LSBTTIQ-Bewegung als „extremistische Organisation“ eingestuft und ihre Aktivitäten verboten. Das deutsche Innenministerium hat 2022 das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) angewiesen, queere Geflüchtete besser zu schützen.

Die Regenbogen-Fahne ist ein Symbol auf Diensthandys von MitarbeiterInnen des Fachdiensts für Geflüchtete im Landratsamt. Damit signalisieren sie Menschen, die bisexuell, transsexuell, transgender, intersexuell oder queer sind (LSBTTIQ), dass die Beratung von Offenheit und Akzeptanz geprägt ist. Foto: tuenews INTERNATIONAL / Ute Kaiser.

Nicht alle queeren Menschen outen sich im Erstgespräch mit den Fachleuten vom Fachdienst des Landratsamts. Bei diesem Termin werden „alle Fragen in Ruhe besprochen“, so Tinatin Khidesheli vom Fachdienst. Dolmetschende von der Caritas übersetzen. Es kann Monate dauern, bis Betroffene genauer erzählen, was sie in ihrem Heimatland erlebt haben: Diskriminierung, Gewalt und Drohungen, sogar mit dem Tod. In den Gesprächen werden sie „aber nicht explizit nach den Fluchtgründen gefragt“, sagt Müller-Mychajliw. Sie sind „extrem belastet und traumatisiert“. Sie haben zum Beispiel Angststörungen oder Panikattacken.
Alle Geflüchteten bekommen dasselbe Integrationsmanagement und dieselbe Sozialberatung. Aber die MitarbeiterInnen des Fachdiensts sind speziell zum Thema LSBTTIQ geschult. Und sie sind „für die Belange der besonders Schutzbedürftigen sensibilisiert“, sagt Müller-Mychajliw. Das heißt, dass bei der Beratung dieser KlientInnen und bei ihrer Unterbringung im Landkreis auf ihre besondere Situation zu achten ist. So gibt es zum Beispiel eine Wohnung, in der mehrere Betroffene wie in einer Wohngemeinschaft miteinander leben. Wenn es keine passenden Wohnungen gibt, kann der Landkreis keine weiteren LSBTTIQ-Geflüchteten aufnehmen.
Die MitarbeiterInnen des Fachdiensts erfahren in den Gesprächen sehr Belastendes. Damit werden sie nicht allein gelassen. Es gibt Teamsitzungen, in denen sie komplizierte und dramatische Fälle besprechen können. Außerdem haben sie Supervisions-Sitzungen mit Fachleuten von außerhalb des Landratsamts. Dabei geht es zum Beispiel um das Thema Nähe und Distanz. Eine der Fragen ist: „Wie grenze ich mich gut ab?“, so Khidesheli.
Trotz allen Fachwissens hat die Beratung auch Grenzen. „Wir müssen erkennen, dass jemand psychische Probleme hat, aber wir müssen nicht behandeln und therapieren“, sagt Müller-Mychajliw. Bei besonderen Bedürfnissen vermitteln die MitarbeiterInnen des Fachdiensts Betroffene an spezialisierte Ärzte, Beratungsstellen wie das Transcafé, den Verein Adis, die Aidshilfe und das Queere Zentrum in Tübingen sowie an die Psychiatrische Institutsambulanz (PIA) des Tübinger Universitätsklinikums oder an dessen Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Außerdem stellen sie den Kontakt zu Ehrenamtlichen her, die diese Geflüchteten im Alltag begleiten.
Bei der ersten Begegnung mit LSBTTIQ-Geflüchteten sind manche Hausmeister von Unterkünften oder Beschäftigte in Rathäusern verunsichert. Sie fragen sich zum Beispiel, wie sie eine Transfrau, die laut dem Pass ein Mann ist, ansprechen sollen. Auch in diesem Fall können die MitarbeiterInnen des Fachdiensts mit ihrem Fachwissen helfen.
Informationen für LSBTTIQ-Geflüchtete in mehreren Sprachen gibt es unter www.queer-refugees.de – einem Projekt des Lesben- und Schwulenverbands, das vom Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration gefördert wird.

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www.tuenews.de

Der Fachdienst für Geflüchtete im Tübinger Landratsamt kann Informationen auch dank Flyern in mehreren Sprachen weitergeben. In ihnen klärt das Projekt „Queer Refugees Deutschland“ queere Geflüchtete unter anderem über das Asylverfahren auf. Foto: tuenews INTERNATIONAL / Ute Kaiser.

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