Wie aus Babygesängen Sprache wird

Von Michael Seifert
Alle Neugeborenen könnten jede komplexe gesprochene Sprache der Welt erlernen. Kulturelle Unterschiede zeigen sich aber bereits bei den ersten Lauten, die Babys von sich geben. Das beweisen die langjährigen Forschungsergebnisse von Professorin Kathleen Wermke von der Universität Würzburg, die sie kürzlich in dem Buch „Babygesänge. Wie aus Weinen Sprache wird“ zusammengefasst hat. Die Leiterin des Zentrums für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen und ihr Team haben beispielsweise beobachtet, dass französische Babys tatsächlich mit Akzent weinen. Ihre Melodielinie verläuft von tief nach hoch, während Babys deutschsprachiger Mütter mit fallender Melodie, also von hoch nach tief, weinen. Japanische und schwedische Neugeborene weinen im Vergleich zu deutschen Babys deutlich komplexer, obwohl sich ihre Kehlköpfe nicht voneinander unterscheiden.
Gegenüber tuenews INTERNATIONAL hat Kathleen Wermke ihr methodisches Vorgehen näher erläutert: „Wir zeichnen Babylaute digital über Mikrofone auf – immer im Beisein der Eltern. Dabei warten wir, bis die Babys spontan von allein Laute von sich geben. Manchmal warten wir eine Weile, denn Babys sind unterschiedlich ‚gesprächig‘.“ Die so erfassten Laute von Babys aus fast allen Kontinenten werden dann mit Hilfe spezieller Computerprogramme analysiert, z.B. wie lang einzelne Laute sind, welche Frequenzen sie enthalten, welche melodische Vielfalt sie aufweisen oder ob bereits einzelne Vokale und Konsonanten geübt werden. „Dabei interessieren uns grundsätzlich alle Laute, die ein Baby produziert, also nicht nur kommunikatives Weinen, sondern auch Gurren und Brabbeln“, fährt die Biologin und Anthropologin fort. „Denn alle Laute sind Bausteine auf dem Weg zur Sprache, der für alle Babys auf der Welt gleich ist! Die Tatsache, dass manchmal bereits die Melodie der Umgebungssprache ‚durchklingt‘ ist spannend, aber wissenschaftlich bedeutender ist für uns der universale Gesang aller Babys, also die universalen Entwicklungsgesetze von einfachen Melodiebögen bis zu ersten Worten.“
Dass bereits die ersten Schreie von Neugeborenen charakteristische Spuren der Muttersprache tragen, die das Ungeborene im letzten Schwangerschaftsdrittel kennenlernen konnte, wird besonders deutlich bei Sprachen, in denen unterschiedliche Tonhöhen die Bedeutung der Wörter bestimmen. Mandarin zum Beispiel, das in China, Taiwan und Singapur gesprochen wird, hat vier Tonhöhen. In der Lamnso-Sprache der Nso, einem ländlichen Volk im Nordwesten Kameruns, gibt es sogar acht Tonhöhen und spezifische Tonhöhenverläufe. Das Weinen der Nso-Babys gleicht eher einem Singsang. Der Abstand zwischen dem tiefsten und dem höchsten Ton ist bei ihnen deutlich größer als bei Neugeborenen deutschsprachiger Mütter, und auch das kurzzeitige Auf und Ab der Töne während einer Lautäußerung ist intensiver. Kathleen Wermke schließt daraus, dass bereits vor der Geburt, im letzten Schwangerschaftsdrittel, eine Prägung durch die Sprechmelodie der Mutter stattfindet. Kaum auf der Welt ahmen die Kinder diese Melodiemuster nach, indem sie durch Schreien und Gurren ihre Emotionen und Bedürfnisse ausdrücken. Auf diese Weise bauen sie eine natürliche Bindung zur Mutter und zur Gemeinschaft auf.
Mit ihrem Buch möchte Kathleen Wermke die Erwachsenen, nicht nur Eltern, dazu animieren, den Babys einfach mal zuzuhören. Gerade in Deutschland hätten das Schreien und Weinen von Babys oft keine Akzeptanz. Wermke meint dagegen, man solle akzeptieren, dass diese Gefühlssprache der Weg zur Sprache sei: „Babys verdienen Respekt und wertschätzendes Verständnis ihrer stimmlichen Botschaften.“ Der Babygesang im ersten Lebensjahr könne als das entscheidende fehlende Puzzlestück betrachtet werden, um den Übergang vom Tiergesang zur Lautsprache besser zu verstehen. Allerdings sei die Forschung noch weit davon entfernt, alle Geheimnisse dieser Klangwelt zu lüften.
Mehr zu den Forschungen und dem Buch in einer Pressemitteilung des Universitätsklinikums Würzburg vom 14.03.2024:
Universitätsklinikum Würzburg: Pressemitteilungen (ukw.de)

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www.tuenews.de

Eine Kinderwiege. Foto: tünews INTERNATIONAL / Qoutayba Abboud.

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