Von Wolfgang Sannwald
Das Oberlandesgericht Koblenz verurteilte Anwar R. am 13. Januar 2022 wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit und Mord zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Anwar R. (58) war Oberst des syrischen Geheimdienstes. Das Gericht befasste sich in dem Verfahren insgesamt mit den Ereignissen beim „arabischen Frühling“ in Syrien Anfang 2011. Die Reaktion des syrischen Regimes bezeichnete das Gericht als „ausgedehnten und systematischen Angriff“ gegen die syrische Zivilbevölkerung. Das Regime gründete damals eine „Zentrale Stelle für Krisenmanagement“. Das Gremium unterstand unmittelbar dem Staatspräsidenten Bashar al-Assad. Es bestimmte, dass die Sicherheitskräfte die Proteste um jeden Preis niederschlagen sollten, auch durch den Gebrauch von Waffen. Die Sicherheitskräfte töteten Menschen, verhafteten Ende April 2011 täglich „massenhaft“ Regimegegner. Diese sperrten sie ohne rechtsstaatliches Verfahren in Gefängnissen ein, unter anderem dem Gefängnis der Abteilung 251 des syrischen Allgemeinen Geheimdienstes in Damaskus. Dort misshandelten und folterten die Sicherheitskräfte „im Rahmen einer umfassenden Strategie des Regimes“ die Inhaftierten.
Das Gericht stellte fest, dass in dem Gefängnis der Abteilung 251 des Syrischen Allgemeinen Geheimdienstes von Ende April 2011 bis Anfang September 2012 mindestens 4.000 Menschen inhaftiert waren. Die Sicherheitskräfte folterten die Gefangenen bei Vernehmungen und außerhalb davon brutal durch Schläge mit Kabeln oder Stöcken, Tritte und Elektroschocks. Um die Gefangenen zu erniedrigen und zu demütigen, hätten die Sicherheitskräfte auch sexuelle Gewalt eingesetzt. Das Gefängnis sei stark überfüllt gewesen, die Inhaftierten hätten unter Entzug von Schlaf, dem Fehlen von Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung gelitten. 27 inhaftierte Personen starben im Zeitraum von Ende April 2011 bis Anfang September 2012 infolge der Folter, der anderen Misshandlungen oder der Haftbedingungen.
Dem Geheimdienstobersten Anwar R. unterstand damals die Vernehmungsunterabteilung der für den Raum Damaskus zuständigen Abteilung 251 des Allgemeinen Geheimdienstes. Diese hieß auch Al-Khatib-Abteilung. Das Gericht machte den Angeklagten wegen seiner Funktion für die Geschehnisse in der Vernehmungsabteilung verantwortlich. Er habe die Abläufe in dem Gefängnis überwacht und maßgeblich bestimmt. Auch wenn er Taten nicht persönlich ausgeführt hätte, sei er wegen seiner Entscheidungs- bzw. Befehlsgewalt verantwortlich. Deshalb verurteilte ihn das Gericht als Mittäter beim Mord an 27 Menschen und bei Freiheitsberaubung und Folterung von 4.000 Menschen. Das Gericht billigte dem Angeklagten nicht zu, dass er aus einer Notsituation heraus gehandelt habe. Denn Anwar R. hätte auch schon früher als im Dezember 2012 aus Syrien fliehen können. Anwar R. reiste am 26. Juli 2014 in die Bundesrepublik ein.
Bei seinem Urteil stützte sich das Gericht auf mehr als 80 vernommene Zeugen. Als Beweise lagen auch Fotografien eines ehemaligen syrischen Militärfotografen vor. Über den Auftakt des Verfahrens berichtete tünews INTERNATIONAL bereits im April 2020 (tun042501). Das Verfahren erregte weltweit Aufmerksamkeit, weil es das sogenannte Weltrechtsprinzip umsetzt. Die Bundesanwaltschaft sprach vom „weltweit ersten Strafverfahren gegen Mitglieder des Assad-Regimes wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit”. Nach dem Weltrechtsprinzip können Gerichte „völkerrechtliche Kernverbrechen“ unabhängig vom Tatort und von der Nationalität von Tätern und Opfern verfolgen. Dies teilte das Oberlandesgericht Koblenz in einer Pressemitteilung vom 13. Januar 2022 mit.
Bericht tünews INTERNATIONAL vom April 2020: https://tunewsinternational.com/?s=tun042501
tun22011402
Damaskus. Foto: Arwa Abdulwahed.