Ein Wintermärchen: Busfahrerin Olga, zwei Ukrainerinnen und eine Tasche

Rund um den Jahreswechsel geschehen manchmal Wunder. Nicht nur in Filmen, sondern auch im wirklichen Leben. Yana und ihre Familie hat eines erlebt. Sie hat es für tünews INTERNATIONAL aufgeschrieben:

„Ich war an diesem Tag erschöpft. Ehrlich gesagt, so wie an jedem anderen Tag seit meinem Umzug nach Deutschland. Oder nach der ,Flucht‘. Ich mag dieses Wort einfach nicht. Morgens der Unterricht an der Uni, nachmittags Deutschkurse, danach, abends, Englischkurse und sehr spät am Abend mein Bürojob. An diesem Tag hat es geschneit. 10 Minuten vor Ende meiner Englischstunde schickte mir meine Mutter eine Textnachricht: ,Ich habe meine Tasche mit allen Unterlagen im Bus vergessen.‘ Mein Unterricht war in diesem Moment zu Ende. Nach einem kurzen Telefongespräch war klar, dass meine Mutter an der Haltestelle des Tübinger Hauptbahnhofs stand und die Fahrer aller Busse der Linie 18 fragte, ob sie die Tasche gefunden hätten. Sie hatte ihre Tasche in einem der Busse der Linie nach Hagelloch vergessen. Sie wartete schon seit drei Stunden. In der Tasche befanden sich die wichtigsten Dokumente: ein ukrainischer Reisepass, eine Versicherungskarte, eine Bankkarte. In ihrer Brieftasche hatte sie nur noch 10 Euro Bargeld. Hinzu kommt, dass meine Mutter weder Deutsch noch Englisch spricht. Mit dem kleinen Vorrat an Wörtern, den sie hier gelernt hat, und dem Google-Übersetzer bat sie die Fahrer um Hilfe, aber vergeblich. 10 Minuten nach unserem Gespräch stand ich neben meiner Mutter an der Haltestelle am Hauptbahnhof. Mir war klar, dass es keinen Sinn ergibt, noch länger hier zu warten. Es war bereits 21 Uhr. Nachdem ich meiner Mutter erklärt hatte, dass wir am nächsten Morgen das Fundbüro, die Polizei und das Busunternehmen anrufen müssen, beschlossen wir, mit dem nächsten Bus nach Hause zu fahren.
Wahrscheinlich muss man nicht erklären, wie schwierig es für Geflüchtete ist, wenn sie im Ausland ihren Pass verlieren. Von ukrainischen Bekannten hörten wir von sechsmonatigen Wartezeiten und Schlangen vor den ukrainischen Botschaften. Einige Ukrainer mussten sogar nach Hause zurückkehren, um trotz Beschuss und täglicher Raketenangriffe einen Pass zu erhalten. Aber es ist derzeit schwierig, in der Ukraine einen Pass zu bekommen – weil die russische Armee die zivile Infrastruktur angreift, haben auch die Verwaltungen oft keinen Strom.
Zu sagen, dass wir niedergeschlagen waren, wäre eine Untertreibung. Als ich den Kopf senkte und das grelle Licht der Scheinwerfer auf dem nassen Asphalt betrachtete, hörte ich von meiner Mutter ein aufgeregtes ,Oh mein Gott, das ist Olga! Das ist meine Rettung!‘ Als ich den Kopf hob, sah ich den Bus der Linie 18, der gerade angekommen war und an dessen Steuer eine gut aussehende Frau mit blondem Haar und roten Lippen saß. Von Olga habe ich schon einmal gehört. Ich erinnere mich an die Geschichte von vor zwei Monaten, als meine Tante und meine Mutter einen Bus verfolgten, der an der Haltestelle bereits losgefahren war. Schließlich hielt er an und öffnete noch einmal die Tür. Als sie einsteigen wollten, hörten sie in ihrer ukrainischen Muttersprache: ,Seid ihr eingeschlafen, Mädchen?‘ Am Steuer des Busses saß Olga, Ukrainerin wie sie. Olga hatte auf wundersame Weise und ohne ein Wort von meiner Mutter oder Tante zu hören, verstanden, dass auch sie Ukrainerinnen waren. Hunderte von Kilometern von ihrem Heimatland entfernt in einer deutschen Stadt eine Busfahrerin aus der Ukraine zu treffen, ist ein kleines Wunder. Leider haben dann alle in der Eile vergessen, ihre Kontakte auszutauschen. Aber es war zum Glück nicht das letzte Treffen.
Nachdem ich also die Worte meiner Mutter gehört hatte, wusste ich sofort, um wen es sich handelte. Wir stiegen eilig in den Bus ein und eilten auf Olga zu. Olga verstand uns sofort und begann ihre Busfahrer-Kollegen anzurufen. Buchstäblich innerhalb von fünf Minuten war Mamas Tasche dank dieser wunderbaren Frau gefunden. Olga bat uns, nach dem Ausstieg in Hagelloch eine Viertelstunde auf den nächsten Bus der Linie 18 zu warten. In diesem Bus würde Olgas Kollege uns die verlorene Tasche bringen. So kam es dann auch. Laut Fahrplan war es die letzte Fahrt auf dieser Strecke. Erleichterung, Freude und Dankbarkeit waren überwältigend.
Olga erzählte uns, dass sie seit ihrer Kindheit Busfahrerin werden wollte und ihre Arbeit liebt. Geboren wurde sie in der ukrainischen Stadt Sambir in der Region Lviv. In Deutschland lebt sie seit 21 Jahren. Olga wohnt in Tübingen und zieht vier Kinder groß. Seit 10 Jahren arbeitet sie hier als Fahrerin beim Rottenburger Unternehmen Omnibus Groß. Laut Olga gibt es unter den rund 250 Fahrern des öffentlichen Nahverkehrs in Tübingen nur vier Frauen. Eine davon ist sie.“

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Busfahrerin Olga. Foto: tünews INTERNATIONAL / Yana Rudenko.

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