Entwicklungshilfe für Europa – 800 Jahre muslimische Kultur in Andalusien

Von Oula Mahfouz und Michael Seifert
Wer als Tourist in Andalusien im Süden Spaniens die architektonischen und künstlerischen Überreste eines 800 Jahre lang islamisch regierten Reiches besichtigt, der gerät ins Staunen. Denn ihm wird klar, wieviel der mittelalterlichen Kultur in Europa den Bewohnern dieses muslimische Reiches im Süden Europas zu verdanken ist. In diesem Beitrag soll es darum gehen, wichtige historische Grundlagen dafür nachzuzeichnen und Beispiele zu benennen.
Der arabische Name „al-Andalus“ (deutsch Andalusien) bezeichnet eine historische Region, die vom 8. bis zum 15. Jahrhundert auf der Iberischen Halbinsel (Spanien und Portugal) existierte. Die genaue Herkunft des Namens al-Andalus ist nicht eindeutig geklärt, nach einer von mehreren Theorien wird angenommen, dass er auf den germanischen Stamm der Vandalen zurückzuführen ist, die in der Region siedelten, bevor sie von den Westgoten besiegt wurden.
Im Jahr 711 eroberten muslimische Truppen des nordafrikanischen Bergvolkes der Berber, angeführt von Tariq bin Ziyad, einen großen Teil der Iberischen Halbinsel von den westgotischen christlich-katholischen Herrschern. In den folgenden Jahrhunderten dehnte sich das muslimische Herrschaftsgebiet weiter aus und umfasste schließlich einen großen Teil Spaniens und Teile Portugals. Der Name al-Andalus wurde von den muslimischen Eroberern auf dieses gesamte Territorium angewendet. Unter Abd al-Rahman I. kam das Land ab 755 unter die Herrschaft der islamischen Dynastie der Umayyaden, als Emir trennte er Andalusien vom Kalifat der Abbasiden ab. Die Herrschaft der Umayyaden mit dem Zentrum Cordoba dauerte in Andalusien bis 1031. Nach dem Zusammenbruch dieser Herrschaft entstanden kleine unabhängige Staaten, die als Taifas bekannt waren. Die Taifa-Periode war geprägt von inneren Konflikten und politischen Spaltungen zwischen den verschiedenen Taifa-Königreichen.
Im Jahr 1085 begann die Periode der Herrschaft der berberische Völker der Almoraviden und Almohaden. Gleichzeitig begann das christliche Königreich Kastilien und León damit, unter dem Stichwort „Reconquista“ (Rückeroberung) die andalusischen Gebiete zu erobern. Im Jahr 1238 fiel Cordoba, die wichtigste Stadt. Damit blieb nur noch das Königreich von Granada unter der muslimischen Herrschaft der Nasriden, das eine letzte Blütezeit erlebte. Raubzüge und Kriege zwischen den christlichen Königreichen und muslimischen Herrschaftsgebieten wechselten mit Zeiten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und des kulturellen Austauschs und sogar Bündnisverträgen ab. Diese Periode endete im Jahr 1492 mit der Eroberung Granadas durch christliche Truppen.
Die Gesellschaft von al-Andalus war multikulturell und multireligiös. Muslime, Christen und Juden lebten lange friedlich zusammen und trugen zur kulturellen Vielfalt bei. Tatsächlich erlaubte Andalusien den religiösen Minderheiten eine beträchtliche Autonomie und gewährte ihnen religiöse Freiheit, was zu einer reichen kulturellen und intellektuellen Tradition führte.
Über Jahrhunderte erlebte die Region eine bemerkenswerte Blütezeit. Die muslimischen Gelehrten in al-Andalus betrieben eine umfassende wissenschaftliche Forschung und förderten Bildung und Entwicklung in verschiedenen Bereichen. Sie übersetzten und kommentierten antike griechische und römische Werke, bewahrten das Wissen der Antike, das in Mitteleuropa weitgehend verloren ging, und trugen gleichzeitig zur Weiterentwicklung des Wissens bei. Ihre Beiträge zu Philosophie, Medizin, Astronomie, Mathematik und anderen Disziplinen hatten einen nachhaltigen Einfluss auf die westliche Geistesgeschichte und bildeten die Grundlage für viele wissenschaftliche Fortschritte der Renaissance und der Aufklärung.
Cordoba war ab dem 9. Jahrhundert das kulturelle und wissenschaftliche Zentrum in Europa, lange vor der Gründung von Universitäten in Zentraleuropa. Viele Gelehrte zog es daher nach Cordoba, das zugleich mit rund 500.000 Einwohnern vor Palermo die bei weitem größte Stadt in Europa war. 80.000 Werkstätten und Geschäfte, 600 öffentliche Bäder, 300 Moscheen und 50 Krankenhäuser hatte die islamische Metropole Cordoba. Erst im 13. Jahrhundert entwickelte sich Paris zur größten Stadt des europäischen Mittelalters.

Der Alcázar in Sevilla ist ein Königspalast aus dem 14. Jahrhundert. Er wurde für den spanischen König Pedro I. erbaut, der ein Liebhaber islamischer Architektur war. Ausgeführt haben den Bau muslimische Architekten und Handwerker aus Granada, weswegen der Palast Ähnlichkeiten mit der Alhambra aufweist. Der Palast beeindruckt durch seine prächtigen Innenhöfe, Gärten und kunstvoll verzierte Räume. Der Garten gilt als Paradebeispiel für andalusische Gartenkunst. Foto: tünews INTERNATIONAL / Roula Al Sagheer.

Hier sind Beispiele für Entwicklungen, die in al-Andalus angestoßen wurden und von dort ins zentrale Europa gelangten:
Fortschrittliche landwirtschaftliche Techniken wurden entwickelt, die eine höhere Produktivität und Effizienz ermöglichten. Die Einführung von Bewässerungssystemen, neuen Anbaumethoden und die Nutzung neuer Pflanzenarten hatten von Andalusien aus Einfluss auf die landwirtschaftliche Praxis in Europa.
Ein wichtiger Beitrag der Araber war die Einführung eines fortschrittlichen Wasserversorgungssystems nach römischem Vorbild, das Wasser in die Städte und öffentlichen Bäder leitete. Sie entwickelten auch neue Badeutensilien, Seifen und Parfums, um das Badeerlebnis angenehmer und hygienischer zu gestalten. Neben der persönlichen Sauberkeit war den Arabern auch die öffentliche Sauberkeit und der Umweltschutz wichtig. Sie entwickelten ein innovatives System zur Abfallentsorgung und trugen zur Verbesserung der hygienischen Bedingungen in den andalusischen Städten bei.
Die Bewohner von al-Andalus entwickelten ganz neue Gerichtssysteme und institutionelle Verwaltungssysteme. Die europäischen Verwaltungssysteme wurden von diesen Ideen und Konzepten der Araber beeinflusst. Diese brachten auch viele neue Werkzeuge und Techniken nach Europa, wie zum Beispiel den Kompass, die Sanduhr und verschiedene Techniken zur Textil- und Papierherstellung. Insgesamt kann man sagen, dass die Lebensqualität für breite Bevölkerungsschichten und die Produktion von Luxusgütern deutlich weiterentwickelt waren als im übrigen Europa.
Die Zahlen von 0 bis 9, die wir heute im westlichen Dezimalsystem verwenden, wurden von den Arabern im 9. Jahrhundert nach Europa gebracht. Dieses arabische Zahlensystem, das auch als Indo-Arabisches Zahlensystem bezeichnet wird, hat sich dann gegenüber den in Europa gebräuchlichen römischen Zahlen durchgesetzt, die weniger effizient waren und das Rechnen erschwerten. Die Übernahme der arabischen Zahlen in Europa hatte einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Mathematik und der Wissenschaften insgesamt. Sie legte den Grundstein für das moderne mathematische Denken und ebnete den Weg für wichtige mathematische Entdeckungen und Fortschritte in den folgenden Jahrhunderten.
Einer der herausragenden muslimischen Gelehrten in al-Andalus war Abu Al-Qasim Al-Zahrawi, bekannt als Albucasis, ein bedeutender Chirurg und Mediziner im 10. Jahrhundert. Sein bekanntestes Werk ist das „Al-Tasrif“, eine umfangreiche medizinische Enzyklopädie, die chirurgische Techniken und Instrumente beschreibt. Seine Arbeit hatte einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Medizin und Chirurgie.
Ein weiterer prominenter Gelehrter war Abbas ibn Firnas, Universalmathematiker und Ingenieur aus dem 9. Jahrhundert. Mit selbstgebauten Flügeln soll er der erste Mensch gewesen sein, der einen Flug absolvierte und eine beträchtliche Strecke gleiten konnte – lange vor Otto Lilienthal oder den Gebrüdern Wright. Dafür hatte der Luftfahrtpionier über zwanzig Jahre lang die Flugmuster verschiedener Vogelarten studiert. Er leistete auch Fortschritte auf dem Gebiet der Optik, wie die Verbesserung von Linsen und die Entwicklung von Korrekturlinsen. Darüber hinaus war er ein erfahrener Musiker, Dichter und Ingenieur, der eine Wasseruhr und einen automatischen Getränkespender erfand.

Die Alhambra in Granada ist ein weltberühmter Königspalast der Nasriden-Dynastie und entstand im 14. Jahrhundert. Sie besteht aus atemberaubenden Gärten, Innenhöfen, Palästen und Festungsbauten. Sie ist bekannt für ihre filigranen Stuckarbeiten, kunstvollen Kacheln, verzierten Holzschnitzereien und arabische Kalligrafie. Die Alhambra war Teil einer Palaststadt, die Platz für 40.000 Menschen bot. Nach der christlichen Eroberung Granadas wurde sie weiter als königlicher Palast genutzt. Foto: tünews INTERNATIONAL / Roula Al Sagheer.

Ibn Rushd, auch bekannt als Averroes, war ein muslimischer Gelehrter im 12. Jahrhundert. Er interpretierte und kommentierte die Werke von Aristoteles und trug zur Entwicklung einer islamischen Philosophie bei. Er betonte die Vereinbarkeit von Vernunft und Religion und hatte Einfluss auf die europäische Renaissance. Ibn Rushd war auch ein angesehener Rechtsgelehrter und seine Werke haben einen anhaltenden Einfluss auf verschiedene Bereiche der Bildung und Kultur.
Die Architektur von Andalusien ist berühmt für ihre beeindruckenden historischen Gebäude, die von verschiedenen Kulturen und Zivilisationen geprägt wurden. Insbesondere die Alhambra in Granada, die Mezquita in Córdoba und der Alcázar in Sevilla sind herausragende Beispiele für die architektonische Schönheit und Vielfalt in Andalusien. Diese Architektur wirkt nicht nur auf der iberischen Halbinsel bis heute nach.
Die Blütezeit von al-Andalus fand mit der christlichen Eroberung von Granada im Jahr 1492 ein abruptes Ende. Die andalusische Architektur aber wurde von den siegreichen Eroberern nicht nur in Granada bewahrt und nicht zerstört. Die Muslime wurden nun unter Druck gesetzt, zum Christentum zu konvertieren oder al-Andalus zu verlassen. Viele wurden zwangsweise vertrieben oder versklavt, viele flüchteten nach Nordafrika. Juden waren ebenfalls Vertreibungen und Verfolgungen ausgesetzt und wurden oft gezwungen, al-Andalus zu verlassen. Es gab eine Zunahme der religiösen Verfolgung, und das öffentliche Ausüben des Islam und des Judentums wurde verboten und von der Inquisition gnadenlos bestraft. Moscheen und Synagogen wurden zerstört. Kulturell und wissenschaftlich ging mit dem Ende von al-Andalus ein wichtiges Zentrum verloren. Bibliotheken wurden zerstört, Bücher verbrannt, Gelehrte vertrieben und unterdrückt. Dennoch hatte al-Andalus einen anhaltenden kulturellen Einfluss auf Muslime und Juden, da Wissen und Kultur von dort in andere Regionen weitergetragen wurden. Aber erst im 19. Jahrhundert kam es mit der Abschaffung der Inquisition in Spanien wieder zu religiöser Toleranz. Der Name Andalusien blieb erhalten als Bezeichnung für die große Provinz im Süden Spaniens.

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„La Mezquita“, die Moschee von Cordoba, wurde im Stil der Umayyaden-Moschee in Damaskus erbaut. Sie wurde 785 an Stelle einer christlichen Kirche errichtet, die nach der Einnahme Cordobas von Muslimen und Christen zunächst gemeinsam genutzt wurde. Die Moschee hatte anfangs 11 Schiffe und wurde mehrfach erweitert, so dass sie seinerzeit die größte Moschee der Welt war. Sie beeindruckt durch über 850 Säulen, die wie ein Wald wirken. Nach der christlichen Eroberung von Cordoba wurde in der Mitte der Moschee ein neues Kirchenschiff für die Kathedrale geschaffen. Foto: tünews INTERNATIONAL / Michael Seifert.
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