Einzigartiges Ahnenbild der Maori: von Neuseeland nach Tübingen

Von Michael Seifert
Im Stadtmuseum Tübingen ist aktuell eine weltweit einzigartige Holzstele aus der Maori-Kultur in Neuseeland erstmals für die Öffentlichkeit zu besichtigen. Das 32 mal 90 Zentimeter große Schnitzwerk ist ein Poupou (gesprochen PaU-PaU) und stellt eine weibliche Ahnenfigur dar. Der berühmte britische Seefahrer und Entdecker James Cook brachte es 1771 von einer Seereise nach England mit, auf der er im Auftrag des englischen Königs den fünften Kontinent, Australien suchte. Etwa 100 Jahre zuvor hatten Holländer als erste Europäer Neuseeland betreten, was allerdings in Vergessenheit geraten war.
Auf welchem Weg das Stück an die Universität Tübingen gekommen ist, lässt sich nur teilweise rekonstruieren. Aus dem Besitz eines Mitreisenden von Cook muss es nach Wien und zum Naturforscher Ferdinand von Hochstetter gelangt sein. Dessen Tochter schenkte es 1937 dem Tübinger Ethnologen Augustin Krämer. In der Sammlung des Instituts für Ethnologie unter dem Dach von Schloss Hohentübingen entdeckte es in den 1990er Jahren der Ethnologe Volker Harms. Ihm gelang es nach aufwändigen Recherchen, das Poupou anhand einer Zeichnung von 1771 eindeutig als Objekt der Cookschen Expedition zu identifizieren. Da die Stele in der Ethnologischen Sammlung nicht sicher genug gezeigt werden konnte, wurde sie bisher in einem Tresor der Universität aufbewahrt.
Harms nahm auch gleich Kontakt mit den Nachkommen der ursprünglichen Besitzer auf, den Maori von Tolaga Bay auf der neuseeländischen Nordinsel, wo Cook seinerzeit landete. Damit konnte auch die Geschichte und Funktion der Stele aufgeklärt werden. Nach der mündlichen Überlieferung gehörte das Poupou der Māori-Adligen mit dem Namen Hinematioro. Es verkörpert eine Vorfahrin aus ihrem hoch angesehenen Adelsgeschlecht und war in ihrem Ahnenhaus untergebracht. Eine solche Figur wird als lebendige Person betrachtet, mit der die Maori durch Berührung und in Ritualen in Kontakt bleiben können. Ihre Stammbäume (genannt „whakapapa“) haben sie sogar über Jahrhunderte hinweg im Kopf, denn diese werden in Gesängen und Rezitationen überliefert und als Teil der eigenen Person betrachtet.
Viele Mitglieder der Maori betrachten Hinematioro und das Poupou als ihre Vorfahrin und sind daher wiederholt nach Tübingen gekommen, um über die Figur mit der Ahnin in Kontakt zu treten. Dazu bestand auch 2019 in Neuseeland selbst Gelegenheit, als das Poupou zur 250-Jahr-Feier der Cookschen Landung dorthin ausgeliehen wurde.
Dabei stellte sich auch die Frage, ob die Figur nicht als mögliche Raubkunst, als durch Gewalt unrechtmäßig in europäischen Besitz gekommen betrachtet und zurückgegeben werden müsste. Die Mitglieder des Tübinger Instituts machten vor Ort jedoch die Erfahrung, dass die Mehrheit der Stammesführer der Maori das Poupou als Geschenk an Cook und seine Besatzung und damit als das erste Geschenk der Maori an die Europäer betrachten. Sie sehen in dem Poupou eine Botschafterin der Maori in Europa, die für Respekt und Freundschaft eintritt. Zugleich sind sie auch dankbar dafür, dass in Tübingen eines der ältesten ethnographischen Zeugnisse ihrer Kultur und das einzige aus dieser Zeit erhalten geblieben ist. Andere Vertreter der Maori erkennen die Rechtmäßigkeit der Schenkung nicht an. Sie sehen in James Cook und seiner Landung den Beginn des Kolonialismus in Neuseeland und damit auch des Rassismus der Europäer gegenüber den Maori. Da es keine schriftlichen Quellen über eine mögliche Schenkung gibt, haben sich diese unterschiedlichen mündlichen Überlieferungen gehalten. Heute leben etwa 800.000 Maori in Neuseeland, das sind etwa 15 Prozent der Bevölkerung. Sie betrachten sich als erste Siedler Neuseelands, da sie ab dem 13. Jahrhundert in mehreren Wellen aus Polynesien in das unbewohnte Neuseeland gekommen sind.
Informationen zur Ausstellung: „Königlicher Besuch im Stadtmuseum: Die Maori-Prinzessin und James Cook“; Ausstellung vom 1. Dezember 2023 bis 25. Februar 2024; Mittwoch, Freitag bis Sonntag 11 bis 17 Uhr, Donnerstag 11 bis 19 Uhr; Stadtmuseum Tübingen, Kornhausstraße 10; Eintritt frei.
Studierende der Ethnologie haben zur Bedeutung, Herkunft und Reise des Poupou recherchiert und die Ergebnisse in Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum in einer kleinen Studioausstellung mit Texttafeln und audiovisuellen Beiträgen zusammengestellt.

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www.tuenews.de

Das Poupou der Hinematioro, derzeit ausgestellt im Stadtmuseum Tübingen. Foto: Valentin Marquardt, MUT, Ethnologische Sammlung.

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