Von Michael Seifert und Youssef Kanjou
Über den Anfang der Musik wissen wir nichts. In den überlieferten Mythen der Völker wird die Musik den Menschen von den Göttern geschenkt und im Bereich von kultischen Ritualen und Beschwörungen verwendet. Der berühmte Begründer der biologischen Evolutionstheorie Charles Darwin stellte die These auf, dass die Musik als Nachahmung von tierischen Lauten, insbesondere von Vogelstimmen entstanden sei. Die ethnologische Untersuchung der Musik von Naturvölkern legt nahe, dass zunächst vor dem Gebrauch von Instrumenten die Musik aus Gesang und Trommeln auf Gegenständen bestand und mit rhythmischem Tanz verbunden war.
Die ältesten erhaltenen von Menschen geschaffenen Musikinstrumente sind Flöten aus Vogelknochen, in die Löcher gebohrt wurden. Sie wurden von Tübinger Archäologen in den letzten Jahrzehnten in Höhlen auf der Schwäbischen Alb ausgegraben und werden anhand der Fundschichten auf ein Alter von etwa 40.000 Jahren datiert.
1995 wurde eine erste ausgegrabene Flöte aus 23 Bruchstücken eines Schwanenflügelknochens zusammengesetzt. Inzwischen liegen acht Flöten vor, darunter auch zwei aus Mammutelfenbein geschnitzte. Die Herstellung aus Elfenbein ist äußerst komplex und erfordert ein hohes Maß an handwerklichem Geschick. „Es sind verschiedene Blastechniken und Spielweisen der Instrumente möglich, so dass man mit ihnen ganz unterschiedliche Klangfarben und Melodien produzieren konnte. Da die Flötenfragmente inmitten der Siedlungsreste gefunden wurden, gehörte Musik wohl zum Alltag der Menschen“, schreiben die Tübinger ArchäologInnen. Wahrscheinlich sei Flötenmusik von Gesang, Klatschen und Trommeln begleitet worden – vielleicht bei Ritualen. Das bisher vollständigste Instrument besteht aus zwölf Fragmenten eines Gänsegeierknochens. Insgesamt dürften die Flöten ganz verschieden geklungen haben, da sie unterschiedliche Längen und Durchmesser aufweisen. Eine der Höhlen hat eine große Halle mit außergewöhnlicher Akustik, die Musik muss dort eine ganz besondere Atmosphäre geschaffen haben.
Aus der gleichen Zeit und aus den gleichen Höhlen stammen auch die ersten figürlichen Kunstwerke der Menschheit, die bisher gefunden wurden: kleine Tierfiguren, aus Mammutelfenbein geschnitzt. Die Archäologen können nachweisen, dass die erste Ausbildung von symbolischer Kultur in Form von Kunst und Musik einhergeht mit größeren Gruppen von nomadischen Menschen, die zusammenlebten. Das wiederum führte zu einem evolutionären Vorteil in Form von höheren Geburts- und Überlebensraten und zur Verdrängung und zum Aussterben der zuvor schon über 150 000 Jahre in Europa lebenden Menschenart der Neandertaler.
Eine dieser ältesten Flöten kann man zum Beispiel im Museum der Universität Tübingen auf Schloss Hohentübingen sehen, weitere befinden sich im Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren bei Ulm. Die Flötistin Anna Friederike Potengowski versucht, auf Flöten, die den archäologischen Funden nachgebildet wurden, die Musik zu rekonstruieren, wie sie vor 40.000 Jahren bei den eiszeitlichen Menschen geklungen haben könnte. Hör-Beispiele finden sich hier: Anna Friederike Potengowski – The Edge of Time (CD) – jpc und bei den Streaming-Diensten.
In unserer Zeitreise machen wir jetzt einen Sprung über mehrere Jahrzehntausende nach vorn und in die Region des Nahen Ostens. Es gibt viele Musikinstrumente, die Archäologen in Mesopotamien, dem Zweistromland, der Region der frühesten Hochkulturen, ausgegraben haben. Das vielleicht Wichtigste ist die sogenannte „Lyra von Ur“ von 2500 v. Chr., die im königlichen Grab von Ur im Süden des Irak entdeckt wurde und sich heute im Britischen Museum in London befindet. Aber was sind die ältesten Noten und das älteste Musikstück?
Es wurden schon lange viele alte Musiksymbole auf Keilschrifttafeln im Nahen Osten gefunden, aber sie waren alle unvollständige Fragmente. 1950 jedoch scheint das älteste Musikstück und das älteste Lied der Welt entdeckt worden zu sein. Sie wurden in der Stadt Ugarit in Syrien gefunden und stammen aus der Zeit der späten Bronzezeit, ungefähr von 1400 v. Chr. Auf der Keilschrift-Tafel mit der Nummer A-6, die ungefähr die Größe eines Smartphones hat, befinden sich zwei Teile: Der obere Teil mit vier Zeilen in hurritischer Sprache ist ein altes religiöses Lied, eine Hymne. Sie erzählt die Geschichte eines unfruchtbaren jungen Mädchens. Dieses glaubt, dass ihr schlechtes Verhalten der Grund für ihre Unfruchtbarkeit sei, daher betet das Mädchen nachts zu Nikkal, der Mondgöttin. Sie trägt einen kleinen Zinnkrug mit Sesamsamen oder Sesamöl bei sich, den sie der Göttin als Opfer darbringt.
Der untere Teil der Tafel besteht aus sieben Zeilen in akkadischer Sprache. Diese enthalten eine Reihe von Musiksymbolen und -zeichen, jedoch keine Wörter. Dies könnten Erklärungen für Musiker sein, wie die Melodie zu spielen ist. Das Akkadische ist eine frühe semitische Sprache, die zur gleichen Sprachfamilie wie Arabisch und Hebräisch gehört. Die hurritische Sprache dagegen ist mit keiner modernen Sprache verwandt.
Dieses bisher älteste Dokument musikalischer Noten wurde im Archiv des Königspalastes der Stadt Ugarit (heutiger Name: Ras Schamra) an der syrischen Küste nahe der Stadt Latakia entdeckt. Ugarit war ein antikes Reich und eine Metropole im 14. und 13. Jahrhundert v. Chr, ein Tor zum Handel mit den Küsten des Mittelmeers. In Ugarit wurde auch das erste Alphabet der Welt entdeckt sowie eine der ältesten Bibliotheken, in der literarische, religiöse und wissenschaftliche Texte gefunden wurden.
Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern und Fächern wie Archäologie, Musik und Physik haben lange Zeit daran gearbeitet, die Rätsel dieser Keilschrift-Tafel zu entschlüsseln. Sie haben dann versucht, sie in Musik umzusetzen. Die Laute wurde als das geeignete Musikinstrument für das Spielen dieser Melodie ausgewählt und man rekonstruierte eine Laute nach einem im alten Ugarit gefundenen Modell.
Der Titel des ersten Versuchs, diese mehr als 3000 Jahre vergessene Melodie zu spielen, war „Stimmen aus der Stille“. Er wurde von Raoul Gregory Vitale in Syrien unternommen. Kürzlich hat der Archäologe Richard Dumbrill in seinem Buch „Die Auswirkungen der Musikwissenschaft im Alten Nahen Osten“ eine moderne Interpretation und Übersetzung des Liedes und der Noten vorgelegt. Im Jahr 2008 präsentierte der syrische Musiker Malik Jandali seine Vision der originalen Ugarit-Kompositionen, die er für Klavier und Orchester arrangiert hat, auf einer CD mit dem Titel „Echoes of Ugarit“.
Hier kann man sich anhören, wie sich Künstler und Wissenschaftler die uralte Musik vorstellen:
https://www.youtube.com/watch?v=tAc2KDNHEw4
https://www.youtube.com/watch?v=9c-hmFN610g&t=6s
https://www.youtube.com/watch?v=NeP_AS0DqaU&t=1s
https://www.youtube.com/watch?v=xSnLwLnOAf4
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Die “Lyra von Ur” von 2500 v. Chr., die im königlichen Grab von Ur im Süden des Irak entdeckt wurde und sich heute im Britischen Museum befindet. Foto: tuenews INTERNATIONAL / Youssef Kanjou.
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