Die Sprachen in Syrien – eine komplizierte Geschichte

Von Youssef und Majd Kanjou und Michael Seifert
Alle wissen, dass die offizielle Sprache in Syrien das Arabische ist. Historiker sprechen allerdings von antiken Quellen in syrischer Sprache.
Was hat es mit dieser mysteriösen und nur von wenigen gesprochenen syrischen Sprache auf sich, für die es auf Arabisch ein eigenes Wort gibt (Siriani), das sich anders als im Deutschen von der Bezeichnung der Staatsangehörigkeit (Syria) unterscheidet? Darüber sprach tünews INTERNATIONAL mit dem syrischen Experten für Aramäische Geschichte und Linguistik Jabagh Kablou. Er war bis 2016 Professor für an der Universität Damaskus und arbeitet jetzt als Stipendiat an der Universität Jena.
Jabagh Kablou erläutert: „In Syrien wie in den anderen Ländern des Vorderen Orients gab es vor der Ankunft des Islams im 7. Jahrhundert n. Chr. eine sprachliche Vielfalt mit zwei wichtigen Gruppen, die der einheimischen Bevölkerung und die der Besatzer des oströmischen/byzantinischen Reiches. Die Sprache der Bevölkerung war zum einen die aramäische Sprache mit ihren verschiedenen Dialekten, einschließlich des Syrischen. Zum anderen die arabische Sprache: Viele Studien weisen auf die Präsenz arabischer Stämme an verschiedenen Orten in Syrien in vorislamischer Zeit hin. Die Sprache der herrschenden Besatzer und ihrer Verwaltung war das Griechische.“
Arabisch und Aramäisch gehören zu einer Sprachfamilie, der so genannten semitischen Sprachfamilie. Daher gebe es zwischen ihnen viele Gemeinsamkeiten im Wortschatz und in der Grammatik, so Kablou. Es sei daher nicht zulässig zu sagen, dass alle diese Gemeinsamkeiten aus den aramäischen Sprachen ins Arabische übernommen wurden.
Das Verhältnis von Aramäisch und Syrisch erläutert Kablou so: „Gegen Ende des ersten Jahrtausends v. Chr. gab es zwei Hauptgruppen der aramäischen Sprache: im Osten und im Westen. Die syrisch-aramäischen Dialekte werden der östlichen Gruppe zugerechnet. Man kann sagen, dass das Syrische eine fortgeschrittene Stufe der alten aramäischen Sprache darstellt.“
Die weitere Entwicklung der Sprachen wird durch die Islamisierung Syriens bestimmt. Der Gebrauch der griechischen Sprache ging weitgehend zurück. „Vor allem die Arabisierung der Bürokratie führte zum endgültigen Verschwinden der griechischen Sprache aus dem Leben der Syrer. Das Aramäische und seine Dialekte blieben vor allem auf dem Lande in Gebrauch. Aber mit dem Übertritt des größten Teils der Bevölkerung zum Islam entstand die Notwendigkeit, Arabisch zu lernen: um die religiösen Riten zu praktizieren und mit den offiziellen arabischen Behörden kommunizieren zu können. Viele gaben daher den Gebrauch ihrer Dialekte auf und wechselten zur arabischen Sprache. Aber ein kleiner Teil der Bevölkerung blieb bei ihren ursprünglichen Sprachen, vor allem dem Syrischen in den nordöstlichen Regionen Syriens und dem Aramäischen in den drei Dörfern nördlich von Damaskus, nämlich Maaloula, Bakhaa und Jaba’in.“
Die vorherrschende Sprache in Syrien ist heute Arabisch, an zweiter Stelle steht Kurdisch. Und dann gibt es Gruppen, die Syrisch, Aramäisch, Armenisch, Tscherkessisch und Türkisch als ihre Muttersprache sprechen.
Das westliche Aramäisch war übrigens laut Wikipedia die Muttersprache von Jesus. Nach einer Schätzung sprechen heute nur noch 500.000 bis 800.000 Menschen, Muslime und Christen im Vorderen Orient und weltweit, Aramäisch.
Die Frage nach der ältesten Sprache auf syrischem Boden oder überhaupt beschäftigt nicht nur die Wissenschaftler. Für Muslime ist das aus religiöser Überzeugung klar, wie unser Experte Kablou erläutert: „Nach einem Ahadith des Gesandten Mohammed ist die Sprache der Menschen im Paradies Arabisch. Also muss auch Adam als erster Mensch, bevor er aus dem Paradies vertrieben wurde, mit seiner Frau Eva Arabisch gesprochen haben.“ Diplomatisch fügt Kablou hinzu, man könne vielleicht Anhänger eines anderen Glaubens finden, die etwas anderes sagen.
Als Wissenschaftler sind für ihn die ältesten bekannten Sprachen die mit den ältesten erhaltenen Texten, also die altägyptische Sprache neben dem Sumerischen und dem Akkadischen. „Sicherlich gab es Völker, die davor existierten und gesprochen haben, aber es sind keine geschriebenen Texte erhalten. Daher muss die Frage nach der ältesten Sprache wissenschaftlich eine offene Frage bleiben.“

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Ältester bekannter Text in syrischer Schrift (406 nach Christus) auf dem Boden einer Kirche. Er wurde 2007 von Youssef Kanjou im Dorf Al-Nabgha in Nordsyrien entdeckt. Foto: tünews INTERNATIONAL / Youssef Kanjou.

 

 

 

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