Vergessene Städte als Zufluchtsort für SyrerInnen

Von Youssef Kanjou

Archäologische Stätten in Syrien erscheinen in der Regel in Form von hügelartigen Erhebungen, die „Talls“ genannt werden. Sie entstanden dadurch, dass die Menschen in der Region Siedlungen bauten und eine Zeit lang darin lebten. Dann wurden sie verlassen und zerstört. Nach einiger Zeit kamen andere Menschen an denselben Ort, um neue Gebäude zu errichten. Also wurde der Ort immer höher als seine Umgebung, weil jede Siedlung eine eigene Schicht hinterließ. Manchmal blieben Überreste von Wohnhäusern sichtbar wie Wände, Böden und große Steine.

Im Nordwesten Syriens gibt es viele solcher archäologischen Dörfer, vor allem in dem erweiterten Bereich zwischen Aleppo und Idlib: Sie wurden in römischer Zeit gegründet und in gebirgigen „Kalkstein“ gebaut. Die Blütezeit dieser mehr als 700 Siedlungen war in byzantinischer Zeit. ArchäologInnen nennen sie die „vergessenen Städte“. ForscherInnen glauben, dass die Bewohner aufgrund von Kriegen und schlechten wirtschaftlichen Bedingungen die Dörfer verlassen haben. Diese wurden 2011 in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen.

Als der Krieg in Syrien ausbrach und überall wütete, flohen viele Zivilisten auf der Suche nach sicheren Orten in den Nordwesten Syriens. Statistiken der Vereinten Nationen zufolge leben heute fast drei Millionen Menschen im Nordwesten Syriens, die sich nicht nur in Städten und Dörfern, sondern auch in bergigen und landwirtschaftlichen Gebieten niedergelassen und Dutzende von Lagern errichtet haben.

Die „vergessenen Städte“ waren einige ihrer Zufluchtsorte. Vielleicht hat das Vorhandensein von Überresten steinerner Gebäude und Mauern sowie von Böden und Höhlen die Flüchtenden angezogen. Denn sie boten Schutz vor den Witterungsbedingungen und auch vor militärischen Angriffen.

Die Vertriebenen passten die alten Bauwerke an, um sie bewohnbar zu machen. Sie fügten Teile hinzu wie moderne Wände und Decken, und errichteten neue Gebäude, wobei sie die vor Ort vorhandenen Rohstoffe nutzten. Die toten Städte sind so zu einem Zufluchtsort für Menschen geworden, die vor dem Krieg fliehen und hoffen, an einem sichereren Ort zu sein. Die Konfliktparteien sollten die alten Stätten aufgrund ihrer religiösen und archäologischen Bedeutung respektieren. Heute sind die meisten archäologischen Stätten von flüchtenden Zivilisten bewohnt. Ein Teil ist zu Militärstützpunkten bewaffneter Gruppen geworden.

Der Archäologe Ammar Kannawi, der sich für den Schutz und die Dokumentation von Altertümern im Nordwesten Syriens einsetzt, weist darauf hin, dass die Flüchtlinge vor allem während der Vertreibungswelle im Jahr 2020 archäologische Stätten nutzten, als es keine andere Zuflucht mehr gab. Zu den Schäden, die an diesen Stätten angerichtet wurden, gehören die Zerstörung durch Zelte, Betonbauten und öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Straßen.

Der gravierendste Schaden entsteht laut Kannawi durch die Lager: Diese haben die „toten Dörfer“ ihrer wichtigsten Merkmale beraubt. Denn diese waren weit vom modernen Leben entfernt in den Kalksteinbergen gelegen – im Gleichgewicht mit ihrer geografischen Umgebung. Jetzt sind moderne Gebäude von allen Seiten in sie eingedrungen und dadurch haben sie einen großen Teil ihres kulturellen Werts verloren.

 

Die vergessenen Städte sind von hohem archäologischem Wert, da sie in einer wichtigen Periode der Geschichte Syriens entstanden sind, insbesondere in byzantinischer Zeit, in der Kirchen weit verbreitet waren. Diese Region war eines der wichtigsten christlich religiösen Zentren: So ist die „Kirche des Heiligen Simeon Stylites“ auch heute noch eine Pilgerstätte für die Christen der Region. Neben ihrer religiösen Bedeutung gilt sie als einzigartiges architektonisches Meisterwerk und war eines der wichtigsten internationalen Reiseziele in Syrien.

Der heutige Zustand dieser Orte, die vor dem Krieg ein touristisches Ziel voller Zivilisation und wundervoller Architektur waren, ist sehr zu beklagen. Es ist schwierig, das Schicksal dieser Orte

vorherzusagen. Noch wohnt die lokale Bevölkerung dort. Werden die Flüchtlinge die Stätte verlassen, wie es die ursprünglichen Bewohner taten, oder werden sie über Generationen dort bleiben? Die Frage bleibt offen.

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Flüchtlingszelte zwischen den alten Gebäuden am Standort Serjilla in der Region Idlib, Nordsyrien. Foto: tünews INTERNATIONAL / Abdul Hai Muhammed.

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