„Die Taliban sind unberechenbar“

Von Ute Kaiser

Jahrelang in Deutschland lebende AfghanInnen machen sich große Sorgen. Auch im Kreis Tübingen. Sie erleben die Lage im Land am Hindukusch als chaotisch. Sie sehen Afghanistan vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Und sie hören von ihren Angehörigen oder lesen in Medien, dass die meisten Menschen verarmt sind und viele sich bedroht fühlen.

„In Afghanistan gibt es keine Freiheit, keine Sicherheit, keine Arbeit und man kann seine Meinung nicht frei sagen“, beschreibt M (alle Namen sind der Redaktion bekannt) die Situation im Land. Außerdem sei das Geld nichts wert und die Leute könnten kein Essen kaufen. Ein junger arbeitsloser Nachbar habe sich daher einen Bart wachsen lassen und sei zu den Taliban gegangen, berichtet der Tübinger.

Ein Bekannter von M’s Familie arbeitet seit der Machtergreifung der Taliban Mitte August nicht mehr als Beamter. Viele Länder haben die Finanzhilfen für Afghanistan gestoppt, die afghanischen Staatsguthaben in den USA sind eingefroren. Viele Staatsbedienstete bekommen kein Geld mehr. Der Mann verkauft jetzt Äpfel auf der Straße. Die Landeswährung Afghani wird immer weniger wert. Aus purer Not wird mancher Arbeitslose kriminell. Wenn er erwischt wird, sagt M, wird seine Hand amputiert – gemäß der strengen Auslegung der Scharia.

F tut es weh zu sehen, „wie mein Land blutet“. Die Lage der Frauen schockiert die Rottenburgerin besonders: „Sie verlieren alles.“ Ihre Tante in Kabul traut sich seit der Herrschaft der Taliban nicht mehr aus dem Haus. Frauen, die früher kein Kopftuch trugen, ziehen zum eigenen Schutz eine Burka an. Die Taliban verwehren Mädchen und Frauen Bildung und Arbeit. Junge Frauen sollen entführt und vergewaltigt worden sein, so F.

„Taliban bedeutet: Angst, Terror, Töten“, sagt der Reutlinger M bei einer Veranstaltung des Vereins „Move on“ in Tübingen. Sein bester Freund ist vor seinem Haus ermordet worden. M gelang erst nach mehreren Versuchen die Ausreise aus Kabul.

Ende 2021 konnten ein paar ehemalige Richterinnen aus Afghanistan nach Deutschland fliehen. Sie fürchteten um ihr Leben. Die Taliban hatten viele Verbrecher aus den Gefängnissen entlassen. Die Richterinnen hatten einige von ihnen verurteilt. Diese Kriminellen drohten den Richterinnen und ihren Familien Rache an. Das berichteten die Juristinnen in der Nachrichtensendung „Tagesschau“.

Gefährdet ist auch eine andere Berufsgruppe: JournalistInnen und mit ihnen die Pressefreiheit. Alle fürchten, „dass sie von den Taliban verfolgt werden“, sagte der mehrfach preisgekrönte Journalist W gegenüber der Menschenrechtsorganisation „Reporter ohne Grenzen“. Einige Journalisten sind ermordet worden: „Das macht Angst.“ Es gebe in Afghanistan praktisch keine freien Medien mehr. JournalistInnen zensierten sich selbst. Der Grund: „Die Taliban sind unberechenbar“, so W. Er lebt mittlerweile in Deutschland.

Viele AfghanInnen bangen wie der Rottenburger M um ihre Familien. Die Taliban haben seinen Stiefvater getötet. Seine Mutter muss gegen ihren Willen eine Burka tragen. M gehört der (überwiegend schiitischen) Minderheit der Hazara an. Die Taliban sehen in ihnen Ungläubige und Menschen zweiter Klasse. Der Mössinger A ist ebenfalls Hazara. Die Taliban haben auch seine Angehörigen in Afghanistan bedroht. Doch A’s Antrag, sie nach Deutschland zu lassen, wurde abgelehnt – ebenso wie der von M und dessen Familie.

Besonders in Gefahr sind Ortskräfte, die zum Beispiel für die deutsche Bundeswehr gearbeitet haben, und ihre Familien. 25.000 Zusagen für eine Aufnahme in Deutschland gibt es nach Zahlen des deutschen Außenministeriums. Rund 5000 Menschen sind bereits in Deutschland, 5000 sollen auf dem Weg sein. Doch rund 15.000 Schutzbedürftige warten noch immer auf das Ende ihrer gefährlichen Lage. Annalena Baerbock, die neue deutsche Außenministerin, sagte kurz vor Weihnachten 2021: „Wir haben die Verantwortung, diese Menschen, besonders Mädchen und Frauen, nicht im Stich zu lassen.“

Afghanistan kommt in deutschen Medien seltener vor als direkt nach der Machtergreifung der Taliban. Dennoch gibt es immer wieder erschreckende Meldungen. Die Welthungerhilfe rechnet damit, dass in diesem Winter mehr als 22 Millionen der rund 40 Millionen Menschen in Afghanistan nicht genug zu essen haben werden. Diese Not liegt auch an der seit zwei Jahren anhaltenden extremen Dürre vor allem im Westen des Landes.

Immer wieder berichten Medien auch über Anschläge des radikalislamistischen „Islamischen Staats“ mit vielen Toten. F verfolgt die Nachrichten aus und über Afghanistan intensiv. „Unsere Waffe ist das Internet“, sagt sie. Um die Gegner des Taliban-Regimes zu unterstützen, postet sie viele Informationen.

Wie sehen F und M die Zukunft Afghanistans? M glaubt, dass in diesem oder im kommenden Jahr die Herrschaft der Taliban beendet sein wird: „Das ist kein stabiles Regime.“ F dagegen ist pessimistisch: „Ich habe gar keine Hoffnung für Afghanistan.“ Die Menschen dort wollten nur in Frieden und Sicherheit leben. Doch weder Frieden noch Sicherheit erwartet sie für das Land, in dem es seit mehr als 40 Jahren Gewalt, bewaffnete Konflikte und Krieg gibt.

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Eine Landschaft in Afghanistan. Foto: Maryam Momand.

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